Der Bank-Chef an einem Beistelltisch im Kreml
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Andrei Kostin (rechts) bei einem Treffen mit Putin

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"Ausflug ins Museum": Darüber klagen Putins Rüstungs-Experten

Top-Banker und Kreml-Vertrauter Andrei Kostin soll den russischen Schiffsbau auf Touren bringen, doch bei Werft-Besichtigungen fühlte er sich in die Ära von Zar Peter dem Großen zurückversetzt. Sein Trost sind vaterländische Opern übers Mittelalter.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Der enge Putin-Weggefährte, Opernliebhaber und VTB-Bank-Chef Andrei Kostin verglich die derzeitige Lage Russlands ironisch mit dem Hochmittelalter (externer Link). Gefragt, welche Opern die Gegenwart am ehesten widerspiegelten, nannte Kostin die hierzulande selten gespielten Musikdramen "Fürst Igor" von Alexander Borodin und "Ein Leben für den Zaren" von Michail Glinka: "Diese patriotischen Werke entsprechen ganz unserem Zeitgeist und symbolisieren wahrscheinlich in gewisser Weise diese Ära." Womöglich sei der milliardenschwere Oligarch "verrückt" geworden, meinten daraufhin einige russische Leser, wohl darauf anspielend, dass "Fürst Igor" in einem Kriegslager im Jahr 1185 spielt und "Ein Leben für den Zaren" eine anti-polnische Anekdote von 1612 thematisiert.

"Leute, sollen wir uns darüber freuen?"

Immerhin stieß Kostin mit seiner Bemerkung auf allgemeine Zustimmung, wonach es leider nicht möglich sei, in der gegenwärtigen Situation "ganz ohne Tränen" auszukommen. Der Bank-Manager ist neuerdings auch für den russischen Schiffsbau zuständig und hatte diesbezüglich wenig erfreuliche Neuigkeiten im Gepäck. Er habe in den letzten acht Monaten alle ihm unterstellten Werften besucht: "Es war wie ein Ausflug in ein Geschichtsmuseum: 'Das wurde unter dem und dem Zaren gebaut, das wurde unter dem und dem Kaiser errichtet.' Na Leute, sollen wir uns darüber auch noch freuen?"

Altersschwache Maschinen, die noch unter Zar Peter I. (1672 – 1725) angeschafft sein könnten, gehörten nun wirklich in die Abstellkammer, so Kostin überraschend spitz. Peter ging in die russische Geschichte ein, weil er 1697 als Leutnant "getarnt" persönlich in einer holländischen Werft mit Beil und Hammer gearbeitet haben soll, um sich damals moderne Fertigungstechniken anzueignen.

Die Arbeitsproduktivität heute sei dagegen "dreimal niedriger als in China", klagte der Manager, es herrsche "enormer Personalmangel". Er verwies darauf, dass das "Baltic-Werk" in St. Petersburg immer noch mit deutschen Maschinen von 1932 betrieben werde, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Reparationen nach Russland überführt wurden.

Die Hälfte des russischen Bankgeschäfts sei wegen der Sanktionen weggebrochen, räumte Kostin ein: "Ich bin kein Freund davon, die Situation zu beschönigen. Wir haben Probleme mit der Technologie, wir haben nicht genug davon und der Westen wird weiterhin versuchen, den Zugang zu blockieren. Wir haben vieles nicht geschafft und müssen unter schwierigen Bedingungen vieles ‚nachholen‘."

Goldene Regel: "Repariere niemals, was noch läuft"

Der Dollar sei die "schrecklichste Waffe" der Amerikaner, so Kostin, der "katastrophale" Folgen der Sanktionen einräumte. Gleichzeitig versuchte er, die russische Elite mit den Worten zu trösten, die Skisaison in Sotschi sei auch nicht schlechter als die im französischen Luxus-Resort Courchevel: "Wissen Sie, was wirklich fehlt? Ich hatte viele Freunde auf der ganzen Welt."

Kostins skurriler Auftritt wurde vielfach kommentiert. Fortschrittliche Länder würden ihre "Antiquitäten" pfleglich behandeln, spottete jemand, und aus alten Fabriken zum Beispiel Kulturstätten machen: "Ein amerikanischer Journalist wurde mal durch das O-Bus-Werk in Engels geführt. Und er schrieb ganz begeistert, dass er ein Mitmach-Museum für Werkzeugmaschinen besichtigt habe. Die Gerätschaften wurden 1945 als Entschädigung aus Deutschland dorthin gebracht." In Russland habe schon immer die "goldene Regel" gegolten: "Repariere niemals, was noch läuft." Ein weiterer Leser meinte beruhigend: "Auch im Westen gelten Maschinen des Baujahrs 1968 noch nicht als Schrott."

Rüstungskonzern kann "gerade mal überleben"

Beklagt hatte sich jüngst auch der Chef des Rostec-Konzerns, der für den Großteil der Rüstungsaufträge zuständig ist. So jammerte Sergei Tschemesow, für das russische Militär sei "Wirtschaftlichkeit" leider eine Nebensache (externer Link). Sein Unternehmen mache nur rund 2,3 Prozent Gewinn: "Mit der aktuellen Rentabilität ist es schwierig, sich weiterzuentwickeln. Wir stellen nur dann neue moderne Ausrüstung her, wenn das Verteidigungsministerium direkte Mittel für Forschung und Entwicklung bereitstellt. Ohne diese Zuwendungen sind viele Unternehmen in einer Situation, in der sie gerade mal überleben können."

Viele Generäle seien an diesem Thema "einfach nicht interessiert". Erschwerend komme hinzu, dass alle Mittel, die Rostec mithilfe von Einsparungen dann doch noch erwirtschafte, nicht etwa in die dringend nötige Modernisierung investiert werden könnten, sondern dazu führten, dass das Verteidigungsministerium beim nächsten Auftrag die Preise drücke. Es sei aufgrund der Sanktionen "sinnlos" geworden, mit globalen Konzernen zu konkurrieren. Bei den ausländischen Geschäftspartnern sei die Angst groß, Ziel von sekundären Sanktionen zu werden: "Zumindest wir plaudern das in keinem Fall aus. Wenn sie es selbst jemandem weitersagen, dann ist es ihr Problem."

Die Folgen der Umsatzrückgänge

Die desolate Lage der Rüstungswirtschaft scheint Putin persönlich sehr umzutreiben, hat er seinen Verteidigungsminister doch mit dem Hinweis ausgetauscht, Militär und Wirtschaft müssten deutlich besser miteinander verzahnt werden. Ob das gelingt, erscheint fraglich, ganz abgesehen davon, dass die Finanzierung immer schwieriger wird: "Der Rückgang der Gazprom-Gewinne muss voraussichtlich durch Steuererhöhungen, stärkere Finanzkontrollen und erhöhte Zölle ausgeglichen werden." Das sei heikel, argumentiert ein Polit-Blogger: "Für das politische Regime ist es jetzt wichtig, bei der Steuerreform keinen Fehler zu machen, der im schlimmsten Fall zu einem ernsthaften Auslöser für die Unzufriedenheit der Bürger werden könnte."

Ob die "Transparenzoffensive" wirkt, die der Kreml in der Rüstungswirtschaft ankündigte, ist sehr umstritten. Die "Säuberungen" könnten durchaus zu noch mehr "Chaos" führen, heißt es, denn der korrupte Apparat habe immerhin leidlich funktioniert. Exil-Blogger Anatoli Nesmijan sieht schwarz: "Russland durchlebt einen weiteren Niedergang nach dem Ende der UdSSR. Angesichts der völligen Unfähigkeit der herrschenden Klasse zur Projektsteuerung können wir mit Zuversicht sagen, dass sich alles nach dem Vorbild des Zusammenbruchs der UdSSR entwickeln wird – die herrschende Elite wird weitermachen wie bisher, die Hofschranzen werden passende Diagramme zeichnen."

Politologe diagnostiziert: "Regierung hat immer Recht"

Politologe Andrei Nikulin gibt seinem Kollegen insofern recht, als er auf die legendäre "Anpassungsbereitschaft" der Russen verweist, die anderswo Opportunismus genannt würde: "Die einzige Konstante ist bei uns die ewige Bestätigung, dass die Regierung immer Recht hat, und dass stets der Standpunkt verteidigt wird, den die Regierung zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade hat, wobei man sich regelmäßig an den aktuellen Positionen orientiert, die 'von oben' im Fernsehen übertragen werden."

Wirtschaftlich führt das selbst nach Auffassung von Propagandist Sergei Markow zu fatalen Folgen. So räumte er ein, es sei leider "schlecht", dass der Rubel derzeit gegenüber dem US-Dollar recht stark sei. Grund dafür sei nämlich, dass China, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate die internationalen Zahlungsabwicklungen aus Angst vor verschärften Sanktionen erheblich eingeschränkt hätten, sodass Russland deutlich weniger importieren könne: "Dadurch wird ausländische Währung nicht benötigt, sie ist also günstiger geworden."

Wirtschaftsfachleute wie Natalia Pirjewa befürchten durch die Importprobleme bereits eine "Verknappung von Waren und Dienstleistungen" (externer Link). Das könne die Inflation anheizen, zumal niedrige Ölpreise und wetterbedingt schlechte Ernteaussichten den finanziellen Spielraum des Kremls einschränken.

Blogger: Menschen in Russland nicht selbstbestimmt genug?

Der auch von westlichen Medien interviewte russische Politologe Wladislaw Inosemtsew hofft ungeachtet aller "autoritären" Tendenzen nach wie vor darauf, dass Russland wieder ein "Rechtsstaat" wird: "Russland ist dazu verdammt, den Weg fortzusetzen, den Gorbatschow aufgezeigt hat. Die Frage ist nur, wie viele 'Höllenkreise' wir durchlaufen müssen, um das Ziel zu erreichen – und von der Antwort darauf hängt ab, wer die Anführer der neuen Perestroika sein und wie gut sie in der Welt verstanden werden."

Noch deutlicher wird ein Blogger aus Pskow (67.000 Fans): "Tatsache ist, dass das Volk nicht bereit war, Verantwortung für den staatlichen und politischen Aufbau zu tragen. In den 90ern probierte man es ein wenig und bekam schnell Angst. Deshalb suchten sie bei der erstbesten Gelegenheit erneut nach einer starken Hand und jemandem, dem sie die Verantwortung für Regierungsentscheidungen übertragen konnten. Die Menschen in Russland sind wie Kinder, die natürlich Ambitionen, aber auch Angst haben, sich vom Rocksaum ihrer Mutter zu lösen, in die große Welt hinauszugehen und selbst Entscheidungen zu treffen."

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