Es war die peinlichste Szene beim Auftritt des russischen Präsidenten vor den versammelten Oligarchen. Putin hatte dort für erhebliche Irritation gesorgt, weil er allen Unternehmensführern, die den nationalen Interessen "direkten Schaden" zufügten, unverblümt die Verstaatlichung androhte. Das "sehr heikle" Thema habe nichts mit einer generellen Rücknahme der Privatisierung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu tun, obwohl damals nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Alle, die "normal und erfolgreich" arbeiteten, soziale Probleme lösten und "zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit" beitrügen, hätten aber nichts zu befürchten. Die Reaktion im Saal: Eisige Stille.
Putin: "Situation normalisieren"
Darauf im Verlauf der Diskussion angesprochen, sagte Putin: "Ich kann Ihnen sagen, warum es keinen Applaus gab, denn die Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden gehen trotz unserer Gespräche weiter, also gibt es keinen Beifall. Ich hoffe, dass wir den Ansatz, über den ich gerade gesprochen habe, wirklich weiterentwickeln und diese Situation normalisieren werden." Das wurde in der russischen Wirtschaftspresse, und nicht nur dort, als Zeichen für Putins Unzufriedenheit mit den Oligarchen gedeutet.
Eines der Exil-Portale machte sich den Spaß, die erste Sitzreihe der anwesenden Konzernlenker näher anzusehen und kam zum Ergebnis, dass zwar fast genauso viele Konzernbosse wie im vergangenen Jahr zuhörten, allerdings nicht mehr durchweg dieselben Personen: "Das Gesamtvermögen der Unternehmer in der ersten Reihe hat sich im Jahr 2024 im Vergleich zum Vorjahr fast halbiert, von 108 Milliarden US-Dollar auf 56 Milliarden US-Dollar."
"Wer nicht für uns ist, ist gegen uns"
Kolumnistin Tatjana Rybakowa setzte über ihren Artikel ein berühmtes Zitat aus Alexander Puschkins Versdrama "Boris Godunow". Das endet mit dem Tod des titelgebenden Zaren, der um 1600 regierte ("Ich fühl des Grabes Kälte"), der Ausrufung seines Nachfolgers und der vielsagenden Regieanweisung: "Das Volk schweigt." Damit verweist Puschkin einerseits auf die Lethargie der Massen, andererseits darauf, dass sich die Elite nicht auf die Unterstützung der Untertanen verlassen kann. Auf die aktuelle Lage angewandt schreibt Rybakowa [externer Link]: "Für den Vermögenserhalt gilt eine strenge Bedingung: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Das bedeutet, dass niemand schweigen oder sich auch nur vorsichtig gegen den Krieg aussprechen kann."
Die russischen Beobachter kommentierten Putins Drohungen mit gegensätzlichen Kommentaren. Die einen vermuten, dass der Präsident den verbreiteten Unmut der Bevölkerung wegen der desolaten Wirtschaftslage und des fortgesetzten Krieges absichtlich auf die "korrupte" Elite lenkt, andere glauben, dass Putin dadurch seine eigene Machtbasis erschüttert, sei er doch vor allem deshalb bisher so unangefochten (gewesen), weil ihn die Führungsschicht, die hauptsächlich mit ihrer persönlichen Bereicherung beschäftigt sei, als "Stabilitätsanker" geschätzt habe.
Muss sich der Kreml-Sprecher Sorgen machen?
Jetzt verbreitete die staatliche Nachrichtenagentur Tass die offiziöse Meldung, nach der Verhaftung von Timur Iwanow, einem der insgesamt zwölf stellvertretenden Verteidigungsminister, könne es durchaus sein, dass im Zuge der Ermittlungen "neue Angeklagte auftauchen". Das wurde als weitere Drohung verstanden, zumal Blogger unbewiesene Gerüchte verbreiten durften, wonach zwei weitere Vize-Verteidigungsminister unter Korruptionsverdacht stünden, darunter "Finanzchefin" Tatjana Schewtsowa. Zahlreiche Bauprojekte des Ministeriums werden derzeit auf die Umstände der Ausschreibungen und ihre Kosten untersucht.
Sorgen machen muss sich möglicherweise Putins Sprecher Dmitri Peskow, der mit Iwanow in offenbar gelöster Stimmung mehrfach für gemeinsame Fotos posierte. "Ich weiß nicht, mit wem Peskow alles in Verbindung steht", knurrte der russische Präsident vor den Oligarchen. Blogger Andrej Malgin meinte prompt: "Es sieht so aus, als hätten sich auch über Peskow dunkle Wolken zusammengezogen. Dieser Ritter im Bärenfell wird seinem Freund [Iwanow] natürlich nicht hinterher geschickt. Aber er könnte seinen angestammten Platz einbüßen - im pulsierenden gesellschaftlichen Leben mit all diesen Partys. Er hat seinen Chef in letzter Zeit offensichtlich verärgert, während der Feind vor den Toren steht."
"Wer kommt als nächstes dran?"
Propagandist und "Politologe" Sergej Markow sah bereits ein regelrechtes "Jagdfieber" in der Bevölkerung ausbrechen, in der es ein "weit verbreitetes Gefühl der Unzufriedenheit" gebe, weil Iwanow seinen Reichtum "über Jahre hinweg" unverschämt ausgestellt habe: "Wer kommt als nächstes dran? Wir wissen mit Sicherheit, dass es weitere Fälle gibt. Wir müssen härter durchgreifen! Unnachsichtiger!" Die Frage ist, ob solche martialischen Äußerungen die Wut nur kanalisieren sollen oder ob die Oligarchen tatsächlich zittern müssen.
Politikwissenschaftler Georgi Bovt wunderte sich: "Wenn vor einer Woche ein Blogger geschrieben hätte, dass der stellvertretende Verteidigungsminister der Russischen Föderation, Timur Iwanow, ein korrupter Beamter sei, wäre gegen ihn ein Strafverfahren wegen Diskreditierung der russischen Armee eingeleitet worden. Natürlich gegen den Blogger. Aber heute ist das bereits möglich." Bovt postete den Bauplan eines luxuriösen "Kasernen"-Neubaus und schrieb dazu: "So bescheiden. Und das warf bis vor kurzem bei niemandem Fragen auf. Und dann geschah das plötzlich aus irgendeinem Grund. Auf die Frage nach dem warum haben wir bis jetzt eigentlich keine Antwort."
"Für den Kreml vorteilhafter"
Exil-Politologe Abbas Galljamow wagte dennoch einen Erklärungsversuch [externer Link]: "Nachdem sie dafür gesorgt hatten, dass die [mutmaßlich manipulierte] Präsidentschaftswahl nicht zu einer Stärkung, sondern im Gegenteil zu einer Schwächung der Legitimität Putins führte, und auch angesichts zusätzlicher Krisen im Zusammenhang mit dem Moskauer Terroranschlag und den Überschwemmungen [in Zentralasien], haben sie sich zusammengerauft und eine groß angelegte Kampagne 'zur Korruptionsbekämpfung' auf den Weg gebracht, um ein Thema auf die Tagesordnung zu setzen, das für den Kreml vorteilhafter ist." Das sei rein taktisch bedingt, große personelle Veränderungen werde es nicht geben.
Putin wolle dem "kleinen Mann" signalisieren, dass er die "Ordnung wiederherstelle", vermuteten auch andere Blogger, zumal der Kampf um staatliche Pfründe innerhalb der korrupten Führungsschicht durch die Sanktionen immer härter werde: "Daher werden nach langjähriger Tradition regelmäßig einzelne 'untergeordnete' Vertreter der Elite zur Belustigung der Menge vom Olymp geworfen."
"Interessanter politischer Frühling" erwartet
Ganz anders der kaukasische Publizist Andrej Gusij. Er erwartet keine kurzfristigen Stimmungsveränderungen durch die Verhaftung des Vize-Ministers [externer Link]: "Dieser Mann [Iwanow] ist auf der Welt wenig bekannt, daher ist das für die Russen nur eine Verhaftung von den vielen, die wir im April gesehen haben. Nun, die Kluft zwischen ihm und den normalen Menschen ist zu groß, daher wird es die Stimmung nicht beeinträchtigen."
Allerdings gebe Putin den Oligarchen zweifellos ein "Signal", weil er längst verstaubte Ermittlungsakten derzeit von den Archiven auf die Schreibtische befördern lasse. Gusij erwartet eine "interessanten politischen Frühling". Diese Sichtweise erinnert an Bertolt Brechts "Dreigroschenoper", wo gegen Bösewicht Mackie Messer bei Scotland Yard erst gar nichts, dann plötzlich sehr viel vorliegt, weil der korrupte Polizeichef unter Druck gesetzt wird.
"Wir leben in einem Horrorfilm"
Ob Verteidigungsminister Sergej Schoigu nach einem klärenden Gespräch mit Putin tatsächlich "sehr irritiert" war, wie kolportiert wird, das sei dahin gestellt. Fest steht, dass er Moskau derzeit fern bleibt und auf Fotos von einer Dienstreise in das kasachische Astana bemerkenswert schlecht gelaunt wirkt. Der vorsichtig kremlkritische Politikchef der "Nesawissimaja Gazeta" verwies ironisch darauf, dass derzeit viel "Blödsinn" über die vermeintlichen Korruptionsfälle zu lesen sei. So posteten Blogger Videos, in denen öffentlich Bedienstete angeblich mit Geldbündeln hantierten: "Dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine Art Archivmaterial, das nur deshalb so überzeugend wirkt, weil russische Beamte verschiedener Dienstgrade tatsächlich die Angewohnheit haben, Bargeld unter dem Kopfkissen zu verstecken."
Politologe Andrej Nikulin wählte ein besonders originelles Beispiel für die aktuelle Stimmung in Russland im Zeichen der Jagd auf korrupte Würdenträger: "Wir leben jetzt in einem Horrorfilm, aber die meisten Menschen haben keine Angst, sondern Spaß daran. Ganz einfach, weil sie auf Seiten des schnellen, starken und geistig beweglichen Freddy Krueger [Serienmörder aus der 'Nightmare'-Kinoreihe, 1984 - 2010] sind, der dank seines Irrsinns erfolgreich mit gewalttätigen Konkurrenten klarkommt, offensichtlich verkappten Nazis. Mit jedem Schlag wird der Glaube an das Können und die Kraft unseres Helden mit Schlapphut und gestreiftem Pullover stärker. Warum also Angst haben, wenn alles nach Plan läuft?"
Ein russischer Leser drückte es angesichts der Lage ähnlich aus: "Warum brauchen wir äußere Feinde, wenn wir innere haben?"
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