Die Welt steht Kopf, als László Tóth die USA erreicht. Die Freiheitsstatue, Symbol der Hoffnung und Demokratie, richtet ihre Fackel nicht in die Höhe, sondern schräg nach unten. Erst als der müde und ausgezehrte Immigrant im Gedränge des überfüllten Passagierschiffs seinen Blick fokussiert, ist die Ordnung wieder hergestellt, der sichere Hafen von New York City in greifbarer Nähe. Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs liegen hinter dem Holocaust-Überlebenden. Ein neues Leben wartet auf ihn.
Maximal ambitioniertes Gesamtkunstwerk
Viel wurde gesprochen und geschrieben über "Der Brutalist", dieses allein schon aufgrund seiner Länge von dreieinhalb Stunden monumentale Drama von US-Regisseur Brady Corbet. Wirklich greifen lässt sich diese epische Dekonstruktion des amerikanischen Traums aber nur im Kino. Denn "Der Brutalist" ist ein Gesamtkunstwerk.
Gefilmt im von Hitchcock bevorzugten Breitwandformat VistaVision. Untermalt von einem Soundtrack, der so minimalistisch wie gewaltig ist. Und versehen mit einer Bildsprache, in der offensichtliche Symbole und kleinste Details der Komplexität der Themen noch mehr Tiefe geben – sei es eine das halbe Bild einnehmende Asphaltstraße, die ins scheinbar gelobte Land führt oder ein verunglückter Gütertransport, der in einer Rauchwolke verschwindet, die KZ-Assoziationen weckt.
Wer diesen faszinierenden, aber nicht immer einfachen Exkurs über Architektur, Design, Kapitalismus, den Horror eines erzwungenen Neuanfangs und das Trauma des Holocaust aufgesogen hat, versteht schnell, warum Corbet und seine Partnerin Mona Fastvold sieben Jahre benötigt haben, um dieses maximal ambitionierte Projekt zu realisieren.
Im Video auf YouTube: Trailer zu "Der Brutalist"
Brutalismus als Ausdruck von Härte und Stärke...
Zentrale Figur des Films ist der titelgebende Brutalist: László Tóth, ein aus Ungarn stammender Architekt und Bauhaus-Schüler. Der fiktive Charakter ist lose von Marcel Breuer inspiriert, der unter anderem das Whitney-Museum in der Upper West Side von Manhattan gebaut hat. Doch im Gegensatz zu Breuer hat niemand auf László gewartet – zumindest niemand mit Einfluss.
Mit seinem Cousin, bei dem er anfangs leben und arbeiten kann, kommt es früh zum Zerwürfnis, László muss sich als Hilfsarbeiter verdingen. Bis ihn der Unternehmer Harrison Lee Van Buren engagiert. Auf einem Hügel seines Anwesens in Pennsylvania will der Provinz-"Citizen Kane" ein Institut errichten – vorgeblich zu Ehren seiner verstorbenen Mutter, tatsächlich aber als weithin sichtbare Machtdemonstration, erbaut im Stil des Brutalismus, dessen kalte Sichtbeton-Struktur für ihn Härte und Stärke symbolisieren.
...als auch von Schmerz und Stolz
Der amerikanische Traum, er scheint plötzlich auch für den jeglicher Illusionen beraubten László in Erfüllung zu gehen. Zu spät merkt er, dass er einen Teufelskreis aus Neid und Missgunst betreten hat und erneut in ein Umfeld geraten ist, das ihn nicht akzeptiert, wie er ist. Doch weil er in einem Abhängigkeitsverhältnis steckt und mit dem Projekt eigene Pläne verfolgt, erträgt er die schlimmsten Demütigungen. Sein Schmerz, aber auch sein unerschütterlicher Stolz werden Einzug halten in ein Gebäude, das selbst für einen Visionär wie ihn ungewöhnlich ist.
Nicht nur ungewöhnlich, sondern oft atemberaubend ist auch der Film selbst. Wie seine Hauptfigur verfolgt Regisseur Brady Corbet unbeirrt sein Ziel. Schicht für Schicht errichtet er ein Meisterwerk, das während der Erschließung labyrinthartig erscheint, in der Draufsicht jedoch seine klare Struktur offenbart. Die finale Aussage manifestiert sich entsprechend im letzten Satz einer Rede am Ende des Films und steht wie ein Ausrufezeichen im Raum: nüchtern und unmissverständlich.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!