Vor 100 Jahren erschien Thomas Manns "Zauberberg". Aus diesem Anlass hat man sich im Münchner Volkstheater an eine Dramatisierung des Romans gemacht und eine vierstündige Bühnenversion geschaffen. Wie lange sind vier Stunden? Nun, keineswegs immer gleich lang. Für einen Theaterabend sind vier Stunden zunächst mal eine stattliche Länge, für die Bühnenadaption eines 1.000-Seiten-Romans allerdings gar nicht mal so arg lang. Womit wir bereits bei einem der zentralen Themen von Thomas Manns "Zauberberg" wären: der Relativität von Zeit.
Claudia Bossard buchstabiert den Plot nicht nach
Sieben Jahre umfasst die Handlung von Manns Roman. Diese auf vier Theaterstunden zu raffen, ist in der Tat relativ sportlich. Claudia Bossards auf höchst erfreuliche Weise eigenwillige Inszenierung will trotzdem keine Reader‘s-Digest-Fassung sein, die die Handlung auf verdauliches Maß herunter formatiert. Die Regisseurin schert sich nicht um Zeitökonomie und klassische Dramaturgie. Zwar folgt die Aufführung im Wesentlichen der Chronologie des Buches, Bossard buchstabiert den Plot aber nicht nach, sondern hat einen überbordenden, nach allen Seiten hin ausfransenden Abend angerichtet.
Thomas Manns Romanheld Hans Castorp, Student aus Hamburg, besucht seinen Vetter in einem Sanatorium in den Alpen, in dem er auf eine Fülle von Figuren trifft, die ihn erstmal über das Wesen der Zeit dort oben auf dem Zauberberg aufklären - und die meist an der Lunge leiden, vor allem aber am Leben. Fasziniert von deren Gebaren wie von deren Gesprächen - über Zeitlichkeit und Zusammenleben, über Weltanschauliches, über Leben und Tod. Alsbald auch liebeskrank mutiert Castorp selbst zum Patienten. Drei Wochen will er ursprünglich bleiben, die erwähnten sieben Jahre werden es am Ende sein.
Fiebrige Betriebstemperatur auf der Bühne
Auf Heilanstalt-Ambiente verzichtet Bossard, gespielt wird bei ihr auf nackter Bühne, die man so leer und groß noch nie in einer Inszenierung gesehen hat, seit der Münchner Volkstheater-Neubau im Herbst 2021 eröffnet wurde. Allein der riesige Raum ist ein Erlebnis. Irgendwo weit hinten stehen eine lange Speisetafel und eine Plattform mit einem Live-Musiker. Dazu eine mobile Wand, um die Bühne bei Bedarf zu teilen oder zu verkleinern. Mehr gibt es kaum. Jedenfalls kaum mehr an Zeugs. Wohl aber jede Menge toller Spielerinnen und Spieler, etwa Jan Meeno Jürgens.
Jürgens spielt Castorp, schön schnodderig zu Beginn, als einen, der sich fast schon gedankenlos seine Gedanken macht. Später, mit steigender Fieberkurve, entwickelt er sich zum hibbeligen Neurotiker, so wie der ganze Abend eine zunehmend fiebrige Betriebstemperatur entwickelt.
Enervierend, faszinierend: Vier Stunden vergehen im Nu
Dabei kommt er auch deshalb ohne Sanatoriums-Kulisse aus, weil Bossard weiß, dass das Theater selbst ein Ort ist, an dem man die Zeit nach Belieben raffen oder aber dehnen, ja fast bis zum völligen Erlahmen bringen kann. So wie die Lungenkranken im Sanatorium gewissermaßen zwischen Leben und Tod stehen, ist das Theater bei ihr ebenfalls eine Art Zwischenreich, in dem die Figuren herumgeistern. Ein Limbus, eine Vorhölle, ein Fegefeuer der Seltsamkeiten, in dem tatsächlich sogar mal Limbo unter einer Stange durchgetanzt wird; wo suizidgefährdete Patienten von den Ärzten mit vorgehaltener Pistole dazu bewegt werden, von ihrem Vorhaben abzulassen; und wo bei einer sonderlichen Yoga-Variante die Körperstellungen "deutsche Eiche" und "Kartoffel" geübt werden.
Der Abend ist zuweilen auch albern, amüsant, dann wieder anstrengend, enervierend, faszinierend, oft alles auf einmal. Bei Bossard gibt's Manns Roman nicht als Geschichte, sondern den "Zauberberg" als Zustand. Was das Buch über Zeit erzählt, macht die Inszenierung: erlebbar. Alle anderen Themen werden zelebriert, oder, je nachdem, wie man’s nimmt - ist ja alles relativ - zerredet. Oh Mann! Man meint zwischendurch, diesen Abend schon auch aushalten zu müssen. Um sich zuletzt dann aber doch zu fragen: Wo denn die Zeit hin ist? Vier Stunden Theater. Am Ende sind sie im Nu vergangen.
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