"Deutschland hat Fieber", sagt der Protagonist. Nein, Deutschland habe Untertemperatur, antwortet ihm eine Frau, die später noch eine große Rolle spielen wird in seinem Leben, einem Leben, das voller Erlebnisse ist, voller Begegnungen, aber fast ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
"Die Zeit ist viel zu groß, so groß ist sie. Sie wächst zu rasch, es wird ihr schlecht bekommen", sagt Cornelia, Jakob Fabians Geliebte, prophetisch; Worte, die dem Gedicht "Große Zeiten" von Erich Kästner entstammen, und die – wie auf die 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts – ebenso gut passen auf unsere Zeit: "Die Dummheit wurde zur Epidemie. So groß wie heute war die Zeit noch nie. Ein Volk versinkt in geistiger Umnachtung."
Jeder mag sich seinen Reim drauf machen
Regisseur Philipp Arnold hat Kästners Roman klug als knapp zweistündiges Exzerpt inszeniert, reduziert auf vier Hauptpersonen. Er schafft eine stimmige Balance zwischen dem Berlin der Weimarer Republik und der aktuellen Welt, ohne platt die gesellschaftlichen und politischen Kümmernisse der Jetztzeit zu betonen.
Das Stück begleitet die individuelle Verunsicherung Jakob Fabians, der wiederum selbst das aus den Fugen geratene Leben beobachtet: mal sarkastisch kommentierend, mal sensibel verzweifelt. Und dann ist da eben noch Cornelia, seine Liebe und zugleich der Gegenentwurf zu ihm: eine Kämpferin, eine Frau, die versucht, zu retten, was zu retten ist, und es ernst meint, wenn sie sagt, wer sich aus dem Dreck ziehen wolle, der müsse sich auch dreckig machen.
Für den Regisseur ist diese Zweier-Schicksalsgemeinschaft der Kern des Stückes und zugleich Sinnbild unserer Tage: "Dieses nebulöse Nichthandeln vom Fabian ist irritierend. Wenn man den Roman liest, denkt man sich: Warum kämpfst Du nicht für Deine Liebe? Warum wirst Du da so taub? Also, was tust Du? Was tut das Individuum? Was tun wir prinzipiell als Gesellschaft? Engagieren wir uns? Das sind Fragen, die sich auch heute stellen, auch vor dem Hintergrund eines erstarkenden Rechtspopulismus in Deutschland und in Bayern."
Drei Autorinnen und Autoren reagieren aktuell auf Kästners Text
Minimalistisch ist das Bühnenbild von Viktor Reim – einfach ein großes Gerüst mit Treppen, Stegen und einer Rampe. Es steht auf einer Drehbühne und ist umgeben von einem dahinter in einem weiten Bogen gehängten, weißen Vorhang, auf den Filme projiziert werden. Zu Beginn Bilder aus dem Berlin der 1930er-Jahre, dann zunehmend Aufnahmen von live auf der Bühne gefilmten Szenen, teilweise auch auf einen feinen Gazevorhang geworfen, der vor der Bühne herunterschwebt.
Der dramatisierte Kästnerroman wird ergänzt durch drei kurze eindringliche zeitgenössische Texte, vom Theater in Auftrag gegeben, organisch eingeschoben in die Handlung und – vergleichbar Kästners Beobachtungen – die Welt ins Visier nehmend. Mit dabei sind Arna Aley aus Litauen, Viktor Martinowitsch aus Belarus und Maryna Smilianets aus der Ukraine, die mit Tagebucheinträgen vom Beginn des Krieges im Februar 2022 erzählt.
Das Kino war kein Vorbild für diese Aufführung
Ganz eigen entwickelt sich dieses Stück im Münchner Volkstheater, weder orientiert an der Frank-Castorf-Inszenierung im Juni 2021 am Berliner Ensemble noch Bezug nehmend auf den prämierten Film "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" von Dominik Graf.
Spannend spannungsvoll ist dieser "Fabian"-Abend, auch in der Beziehung von Fabian zu seinem Freund Labude. Ein wilder Ritt durch die Zeitläufe, toll gespielt von Anton Nürnberg und Ruth Bohsung als Liebespaar. Das Theater verlässt man inspiriert nachdenklich, sinnend darüber, wie man sich selbst der Welt gegenüber verhält – resignierend oder kämpferisch.
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