Als lyrischen Klagegesang bezeichnete Peter Weiss sein Theaterstück "Die Ermittlung". Es handelte sich um eine experimentelle Beschreibungsdramatik – eine intensive Collage aus Verhörprotokollen, Zeitungsartikeln, Interviews und Tagebüchern. Täter und Opfer des Holocaust standen sich gegenüber. Befragt von einem Richter, dem Staatsanwalt und den Verteidigern.
Regisseur RP Kahl hat daraus jetzt einen fulminanten, vierstündigen Film gemacht, der seine theatrale Herkunft nicht verleugnet. Insgesamt 60 teilweise namhafte Schauspielerinnen und Schauspieler übersetzen den ersten Auschwitz-Prozess auf der Leinwand in ein leicht abstrahiertes, spannendes Lehrstück – ohne historisierende Kulissen oder Zeitzeugeninterviews. Den Text von Peter Weiss holt der Regisseur in unsere Gegenwart. Ihn interessiert "nicht nur die Erinnerung, nicht nur das klare Verantwortungsbewusstsein", wie er dem BR erzählt, "nicht nur der Blick zurück, sondern der Blick nach vorn. Wie wollen wir Gesellschaft gestalten? Da ist sehr wichtig, die Historie zu kennen, die Geschichte zu kennen und aus der letztlich zu lernen."
Dreh in einem Fernsehstudio
"Die Ermittlung", auch als Auschwitz-Oratorium bezeichnet, führte Mitte der 1960er Jahre zu breiten vergangenheitspolitischen Auseinandersetzungen. Rund 60 Jahre später ist der Fokus ein anderer: RP Kahl und sein Team möchten die Methodik sowie die Hintergründe des Holocaust vor Augen führen, zudem im derzeitigen Moment einer epochalen Zäsur: Es gibt immer weniger Zeitzeugen – und Rassismus sowie Antisemitismus nehmen dramatisch zu.
Entsprechend fiel die Entscheidung, in einem Fernsehstudio bei Berlin zu drehen, einem sehr gegenwärtigen Raum: "Wir waren zwei Wochen in einem Studio in Berlin, wo sonst Joko und Klaas ihre Show aufnehmen, wo 'Voice of Germany' aufgenommen wird", sagt RP Kahl, "klar ist das erstmal ein bisschen komisch, weil wenn man in den Saal kommt, kommt noch ein bisschen Konfetti von oben. Man muss das auch erstmal umcodieren. Das ist uns gelungen schon durch die Bühne, die wir aufgebaut haben."
Die Übertragung in die Gegenwart gelingt
RP Kahl verzichtet größtenteils auf die Emotionalisierung des Stoffes sowie auf Psychologisierungen durch die Schauspieler, unter ihnen so bekannte, wie Rainer Bock, Clemens Schick, Christiane Paul und Sabine Timoteo. "Die Ermittlung" funktioniert auf der Leinwand als überzeugende Mischung aus Bühnendramaturgie und den visuellen Möglichkeiten des Films. Die Übertragung des Textes von Peter Weiss in unsere Zeit gelingt – trotz einer gewissen Distanz fühlt man sich direkt gemeint: Wie zerbrechlich ist unsere Demokratie, wie weit verbreitet sind Gleichgültigkeit, Konformismus und Opportunismus?
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