Ensemble der Ruhrtriennale in weißen Kostümen
Bildrechte: Caroline Seidel/Ruhrtriennale
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Haugtussa mit Anlehnungsbedürfnis

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Düstere Nationalheldin "Haugtussa": Borderlinern in Norwegen

Düstere Nationalheldin "Haugtussa": Borderlinern in Norwegen

Sie ist ihren norwegischen Landsleuten unheimlich, weil sie Trolle sieht: Haugtussa, Titelheldin eines Versepos von 1895, stellt sich ihren seelischen Abgründen. Auf der Ruhrtriennale wird das zu einer romantischen Verneigung vor Außenseitern.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Es ist schon sehr auffällig, dass so ziemlich alle Nationalhelden der europäischen Literatur gesellschaftliche Außenseiter sind, Sonderlinge, oder, moderner ausgedrückt: "Borderliner". Das gilt ganz sicher für Dr. Faust, für Hamlet, für Eugen Onegin, aber auch für Johanna von Orléans. Der Normalste unter all denen ist womöglich noch Wilhelm Tell.

In Norwegen verehren sie natürlich ihren Peer Gynt - auch einer, der sich gesellschaftlich unmöglich macht. Sein weniger bekanntes weibliches Gegenstück ist dort Haugtussa, eine Frau, vor der alle Angst haben. Sie kann nämlich Dinge sehen, die anderen verborgen bleiben: Trolle, Feen, Hexen, unterirdische Geister. Das ist natürlich ein Sinnbild für das Unterbewusstsein, für verdrängte Emotionen, für unerfüllte Sehnsüchte.

Abendland vernarrt in Außenseiter

Der hierzulande weitgehend unbekannte Dichter Arne Garborg (1851 - 1924) veröffentlichte das Versepos 1895, als der Symbolismus Hochkonjunktur hatte, befeuert von der Psychoanalyse des Sigmund Freud. Warum auch immer: Das Abendland ist offenkundig ganz vernarrt in Außenseiter, in verhaltensauffällige Personen.

Die norwegische Regisseurin Eline Arbo macht da nach eigenen Worten keine Ausnahme, ist fasziniert von randständigen Charakteren und inszenierte die tragische Romanze von "Haugtussa" jetzt in der Bochumer Jahrhunderthalle bei der Ruhrtriennale - übrigens ein Festival, das betont divers und experimentierfreudig sein will und auf jeden Fall künstlerisch mehr riskiert als die Bayreuther oder Salzburger Festspiele.

Nordlichter, regennasse Herbstnächte

Die Musik zum symbolistischen Gedicht-Reigen um die titelgebende unheimliche Bauerntochter Haugtussa, die eigentlich nach ihrem heimatlichen Hof Veslemøy heißt, schrieb kein Geringerer als Edvard Grieg. Ergänzt wurden dessen acht spätromantischen Lieder vom jungen niederländischen Komponisten Thiijs van Vuure.

Das erinnerte musikalisch an norwegische Folklore, aber keineswegs an skandinavische Mittsommernachtsfeste, sondern eher an Nordlichter, regennasse Herbstnächte, dampfende Moore. Interpretiert wurden die Lieder ganz fulminant von Adrian Angelico, eine norwegisch-samische Künstlerpersönlichkeit mit Mezzosopran-Stimmlage und nicht-binärer Identität.

Ein bildstarker und eindringlicher Abend, der vom Publikum sehr freundlich beklatscht wurde. "Sei vernünftig!", wird der liebeskranken Seherin Haugtussa von der Dorfgemeinschaft zugerufen, aber wer hier normal und wer abartig ist, das ist sehr die Frage. Freunde der Romantik wissen, was damit gemeint ist, gilt es doch stets, die Fassaden einstürzen zu lassen, hinter denen sich vermeintlich vernünftige Menschen gern verschanzen.

Therapiesitzung mit Endreimen

Die von ihrem feschen Liebhaber Jon (Christian Ruud Kallum) verlassene Haugtussa (herausragend: Kjersti Tveterås) stellt sich ihren seelischen Abgründen, ihrer Eifersucht, ihrer Verzweiflung, ihrem Rachedurst, ihrer Todessehnsucht, und sie wird dadurch stärker, unabhängiger, zuversichtlicher. Ja, das wirkt wie eine Therapiesitzung mit lauter Endreimen.

Lichtdesignerin Norunn Standal bebilderte das ungemein poetisch, einfühlsam, unaufgeregt, minimalistisch, sehr passend zum bedächtigen Norwegen. Am Ende stellt sich die Frage, was eigentlich wäre, wenn vermeintliche Außenseiter die Mehrheit stellen würden, es also deutlich mehr "unvernünftige" und weniger angepasste Menschen gäbe. Ob die sogenannte Normalität das aushalten würde? Darauf kann es nur "diverse" Antworten geben!

Wieder am 14. und 15. September bei der Ruhrtriennale

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