Zuschauer bei der Ehrung von Gefallenen des Zweiten Weltkriegs
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Russische Patrioten in Murmansk

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"Epische Katastrophe": Russische Wissenschaftler lehnen Krieg ab

"Epische Katastrophe": Russische Wissenschaftler lehnen Krieg ab

Putins Propagandisten ereifern sich über eine "Umfrage", wonach Wissenschaftler, Journalisten und Kulturschaffende mehrheitlich gegen Putins Krieg sind: "Das ist fast vollständig feindlich besetztes Gebiet". Kremlkritiker reagieren mit Spott.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

💡 Peter Jungblut beobachtet für BR24 Kultur die Debatten hinter den Meldungen rund um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dazu verfolgt er russische Medien, Telegram-Kanäle und Social Media, und wertet die Einschätzungen / Stimmen dort dazu feuilletonistisch aus und ordnet ein. So zeigen wir, wie Millionen Menschen innerhalb der russischsprachigen Welt über die Ereignisse diskutieren.

"Bei uns liegt vieles im Argen, aber unsere Wissenschaft ist eine epische Katastrophe. Sie ist überhaupt nicht russisch und quasi nicht vorhanden", schimpft der rechtsextreme "Philosoph" Alexander Dugin (externer Link, russischsprachig) auf seinem Telegram-Kanal über eine neue "Umfrage" (externer Link, russischsprachig), wonach rund 85 Prozent der befragten russischen Wissenschaftler gegen Putins Angriffskrieg seien. Auch eine Mehrheit der Journalisten und Werbefachleute lehnt den Krieg demnach ab, ebenso wie Kulturschaffende. Begeistert scheinen nur Polizisten und Rentner.

"Drei Jahre in die Sonntagsschule"

Die Wissenschaften seien "fast vollständig feindlich besetztes Gebiet", so Dugin unwirsch: "Das erklärt vieles, was während der Spezialoperation geschehen ist und eine Reihe unserer Fehlschläge." Der Propagandist regt sich ohne nähere Angaben darüber auf, dass "Philosophen", die mit Putins Vorgehen sympathisieren und die besetzten Gebiete besuchen, angeblich ihren Job verlieren.

Propagandist Andrei Medwedew (186.000 Fans, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen russischen Ex-Präsidenten) vertrat die Ansicht, die Intelligenz verleugne seit den Zeiten des Anarchisten Michail Bakunin (1814 - 1876) konsequent den russischen Staat. Medwedew zitierte zum "Beweis" den russischen Politiker Peter Struve (1870 - 1944), der Wissenschaftler grundsätzlich für abtrünnig, staatsfeindlich und atheistisch hielt.

Weniger staatstragende Blogger machen sich über derartige Ansichten lustig. So schreibt der Politologe Andrei Nikulin (externer Link, russischsprachig): "Es ist offensichtlich, dass alle unsere Schwierigkeiten von den klugen Leuten ausgehen, wir brauchen aber Gläubige. Wenn wir erst mal alle Russen drei Jahre auf die Sonntagsschule geschickt haben, können wir endlich vorwärts marschieren." Eine ironische Anspielung darauf, dass Dugin allen Ernstes die Rückkehr zur Religiosität des orthodoxen Mittelalters predigt.

"Auf glatten Lügen aufgebaut"

Politologe Anatoli Nesmijan (116.000 Fans) spottete (externer Link, russischsprachig): "Ich sehe in der Umfrage keinerlei Widersprüche. Menschen, die im wissenschaftlichen Bereich tätig sind, sind natürlich auch anfällig für Propaganda, aber sie sind aufgrund ihrer rationalen Denkweise viel schwerer zu täuschen. Für ein Regime wie das jetzige, das auf glatten Lügen aufgebaut ist, ist das sicherlich eine untragbare Situation. Daher mögen die Behörden diese Nerds im Allgemeinen nicht wirklich und behandeln sie stets mit Misstrauen."

"Kreative sehnen sich nach ruhigem Leben"

Ein weiterer Blogger scherzte: "Wir wollen keine Andeutungen machen, aber wir sagen ganz offen: Je schlauer ein Mensch ist, desto richtiger sind seine Schlussfolgerungen." Die Unterstützung für Putin sei ausgesprochen "unreflektiert", analysiert ein Kommentator mit 92.000 Followern: "Je weniger Menschen intellektuell arbeiten, desto größer ist ihr patriotischer Eifer und die Bereitschaft, für die von Putin ausgegebenen Ziele Opfer zu bringen. Andererseits ist die Polarisierung der Gesellschaft enorm: Es gibt einen 'neuen Kriegsadel' und Rentner, die für die nationale Souveränität eintreten, und es gibt die Kreativen, die sich nach einem ruhigen, friedlichen Leben sehnen."

Der Kreml müsse sich die Loyalität der "einfachen" Bevölkerung allerdings erkaufen: "Die Unterstützung verschwindet sofort, wenn die finanziellen Hilfen ausbleiben." Vermögende Russen dagegen leisteten sich kritisches Denken, glaubten nicht an einen "Sieg" und gerieten zunehmend in Opposition zur Regierung: "Es entsteht ein wirkungsmächtiger innerrussischer Konflikt zwischen Macht und Wissen, der uns technologisch noch weiter zurückwerfen wird. Die Behörden waren nie in der Lage, den Intellektuellen und Geschäftsleuten einen vernünftigen Gesellschaftsvertrag anzubieten und setzten lieber auf Rentner."

Festnahmen wegen "Hochverrats"

Das "Wall Street Journal" hatte kürzlich darüber berichtet (externer Link), dass Physiker, die bisher an russischen Überschall-Raketen arbeiteten, aus Angst vor Repressionen ihre Arbeit eingestellt hätten. Wegen "mindestens einem Dutzend" Verhaftungen von vermeintlichen "Spionen" in der Rüstungsforschung sei der Job inzwischen gefährlicher als Tiefseetauchen oder die Tätigkeit auf einer arktischen Ölbohrplattform.

Kremlsprecher Dmitri Peskow hatte bereits im vergangenen Jahr behauptet (externer Link, russischsprachig), die Geheimdienste schützten "Staatsgeheimnisse", es gebe keinen "Trend", Forscher einzusperren. Gleichwohl waren mehrere Wissenschaftler wegen "Hochverrats" festgenommen worden, weil sie in ausländischen Fachzeitschriften veröffentlicht hatten.

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