TV-Propagandist Wladimir Solowjow kann sich nicht erklären, wie dieser russische Film mit einem Budget von umgerechnet 12 Millionen Euro überhaupt zustande kam. Er wittert dahinter eine ausländische Geheimdienstoperation, argwöhnt, der amerikanisch-russische Regisseur Michael Lockschin (43) habe die Behörden "in die Irre geführt" oder "Informationen zurückgehalten". Jedenfalls schimpfte Solowjow in seiner Sendung: "Das ist überhaupt nicht in Ordnung! Wir müssen uns ernsthaft damit auseinandersetzen. Und wir möchten freundlichst darauf hinweisen, dass es für uns alle höchste Zeit ist, in jeder Hinsicht aufzuwachen. Es ist an der Zeit, dass jeder zur Besinnung kommt." Die Soldaten an der Front hätten "viele Fragen, was gerade im Land passiere". Mit einem lässigen "Na, okay" sei es in diesem Fall nicht getan.
"Beschimpfen regt Fantasie an"
Die Chefredakteurin des vom Kreml gesteuerten Kanals "RT", Margarita Simonjan, gab ihrem Kollegen vor laufender Kamera begeistert recht, obwohl "RT" die Kinoproduktion zuvor sehr positiv besprochen hatte ("visuell erstklassig"). Sogar Putins "Chefideologe" und Geschichtspolitiker Wladimir Medinski angetan gewesen sein soll. Möglicherweise handelt es sich um einen Fall von Masochismus, mutmaßt der russische Journalist Igor Zlobin für die "Neue Iswestija": "Michail Bulgakow verherrlichte in seinem Roman sein Vaterland alles in allem in keiner Weise, sondern demütigte es im Gegenteil sehr, sehr drastisch, seine Bücher werden jedoch trotzdem am meisten in dem von ihm so geschmähten Land verkauft und gelesen."
Alle wutentbrannten Nationalisten täten dem Film unfreiwillig einen großen Gefallen, so Zlobin: "Es ist seit langem bestens bekannt: Wenn man ein neues Kunstwerk 'versenken' will, sei es ein Buch, ein Theaterstück, ein Gemälde, eine Symphonie oder, wie in diesem Fall, einen Film, muss man ihn totschweigen, so tun, als ob es ihn gar nicht gibt. Ihn zu beschimpfen, regt im Gegenteil die Fantasie der Zuschauer bzw. Leser so sehr an, dass das Werk umso populärer wird, je mehr es kritisiert wird. Das wissen übrigens alle Autoren der Welt sehr gut, die sich immer freuen, wenn sie in irgendeinem Medium einen wütenden Verriss lesen. Für sie ist das noch wichtiger als Lob, denn es erhöht garantiert die Zahl der Leser bzw. Zuschauer."
"Wird wahrscheinlich verboten"
Russische Ultrapatrioten und Kremlfans ereifern sich darüber, dass Michael Lockschin in seiner Verfilmung von Michail Bulgakows 1966 posthum erschienenem Roman "Der Meister und Margarita" "viele spöttische Anspielungen auf die russische Realität" von heute untergebracht habe: "Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Film verboten wird." Bulgakow hatte den Text bis kurz vor seinem Tod im März 1940 seiner Frau diktiert und darin das Moskauer Leben während der blutigen "Säuberungsaktionen" Stalins satirisch beschrieben. So schaut der Teufel persönlich unter dem Namen Voland als "Ausländer" in der russischen Hauptstadt vorbei, feiert wilde Partys und gibt sich als "Professor für Schwarze Magie" aus. In einem Wohngebäude Moskaus verschwinden unterdessen laufend Mieter - eine Allegorie auf die Machenschaften der stalinistischen Geheimpolizei.
Der Film, der 2021 während der Corona-Pandemie in Moskau, St. Petersburg und auf Malta gedreht wurde, sollte ursprünglich bereits vor einem Jahr in die Kinos kommen, startete nach mehrfacher Verschiebung jedoch erst am 25. Januar. Den Teufel auf Dienstreise spielt August Diehl, wofür er hervorragende Kritiken bekam, von kremlnahen wie von Exil-Medien ("lässt einem das Blut in den Adern gefrieren"), weshalb es doppelt komisch erscheint, dass im Nachhinein unter den Putin-Fans die "Hölle los" ist.
Bulgakows Buch gehört in Russland zu den beliebtesten modernen Klassikern, viele Russen werfen mit Zitaten aus dem Roman um sich, was die große Aufmerksamkeit für die Neuverfilmung erklärt. Am Startwochenende soll sie mit Einnahmen von umgerechnet etwa 4,3 Millionen Euro an der Spitze der Kino-Charts gelegen haben, vor den "Bremer Stadtmusikanten", und dass, obwohl die staatlich zensierten Medien keinerlei Werbung machten.
"Freunde, was ist da los?"
Inzwischen wandten sich "besorgte Bürger" an die russische Staatsanwaltschaft, um den Film zu verbieten und Regisseur Michael Lockschin offiziell als "Extremist und Terrorist" zu brandmarken. Der in den USA geborene, russischstämmige Filmemacher, der am Beginn seiner Karriere als Werbefilmer arbeitete, macht kein Hehl daraus, dass er auf der Seite der Ukraine steht und forderte, dass Russland nach Kriegsende Reparationen für das angerichtete Leid und die Zerstörungen zahlen muss. Im Übrigen hofft Lockschin, dessen Eltern als überzeugte Kommunisten 1986 in der Gorbatschow-Ära in der UdSSR politisches Asyl beantragten und erhielten, dass die "Verantwortlichen für den Krieg" eines Tages auf einer Anklagebank sitzen, so wie die NS-Haupttäter bei den Nürnberger Prozessen. Russische Ultrapatrioten werfen ihm ohne irgendwelche Beweise vor, für die Ukraine "Geld gespendet" zu haben.
"Freunde, was ist da los?" fragte sich der nationalistische Ex-Abgeordnete Wjatscheslaw Lysakow empört nach dem Filmstart und vermutete, der Roman habe wohl dermaßen "mystische Wirkung auf die Gehirne unserer Beamten", das sie zugelassen hätten, wie eine "Schlangenbrut auf Russland scheißt". Immerhin seien "Kriegsgegner" unter den Mitwirkenden: "Wann wird das enden? Wann werden wir, wenn schon nicht den Tod unserer kulturellen Besatzer, dann wenigstens ihre Vertreibung erleben? Ich möchte das noch mitbekommen. Wenn unsere jetzige Generation das nicht mehr schafft, fällt alles auseinander." Der kommunistische Vater von Lockschin werde sich wohl "wie eine Spindel" in seinem Grab drehen, pflichtete Bloggerin Daria Mitina diesem harschen Urteil bei und zeigte sich aufgebracht von der vermeintlichen "Abscheulichkeit und Schande".
"Die gleiche muffige, stickige Atmosphäre des Terrors"
Starblogger Andrej Medwedew (175.000 Fans) wetterte, Lockschin sei ein "ideologischer Gegner des russischen Staates und Volkes": "Doch der Staat, vertreten durch die für das Kino zuständigen Behörden, gibt ihm Geld. Warum? Warum ist einer der besten Militärdokumentarfilmer des Landes, Max Fadejew, der seit 2014 den gesamten Krieg [im Donbass] miterlebt hat, gezwungen, ständig Spendenaktionen durchzuführen und die Leute um Geld für die Fertigstellung seines nächsten Films anzubetteln, während irgendein Russophober Haushaltsgelder erhält?"
Während sich die russischen Putin-Verehrer an Lockschins politischer Einstellung abarbeiten und ihn bei jeder Gelegenheit beschimpfen, rühmen kremlkritische Blogger, der Film erleichtere den heutigen Moskauern den Blick in den Spiegel: "Stalins Moskau im brillanten Werk von Michail Bulgakow ist dem heutigen Moskau sehr ähnlich. Die gleiche muffige, stickige und drückende Atmosphäre des Terrors und der Spitzel, gefüllt mit Propaganda, eingeschüchterten und geistig gebrochenen Menschen. Grausamen und dummen Geheimdienstlern, 'in Wohnungsfragen verwöhnten' sowjetischen Patrioten, die der [rechtsextremen] Z-Öffentlichkeit sehr ähneln." Die Nationalisten sollten sich mal fragen, ob sie nicht besser ein Verfahren gegen Bulgakow einleiten und dessen Bücher verbrennen sollten, statt den Regisseur zu verfolgen.
"Handlung besonders ergreifend"
Natürlich müsse Bulgakow persönlich gegeißelt werden, der gewagt habe, die "Zukunft vorwegzunehmen", hieß es ironisch. Am besten müssten auch gleich alle Werke des Lyrikers Sergej Jessenin (1895 - 1925) aus allen Bibliotheken entfernt werden. Journalist Alexej Baunow witzelte: "Die Patrioten erinnern an den bislang letzten Versuch, ein totalitäres Moskau aufzubauen, der sogar erfolgreich zu sein schien, weil die damaligen Akteure alle ihre Ziele erreichten – Macht, Geld, Kontrolle über Ressourcen, eigentlich alles. Im Ergebnis gab es allerdings in diesem Reich der absoluten Wahrheit auf Erden kein populäreres und begehrenswerteres Buch im Land als den verbotenen Roman eines verbotenen Schriftstellers, über den, sobald es wieder erlaubt war, endlos viele Zeilen zu Papier gebracht wurden."
In der im Ausland erscheinenden "Novaya Gazeta Europe" schreibt Filmkritikerin Lydia Tsoi: "Der Start eines Films über die Verfolgung der kreativen Intelligenz unter Duldung der Behörden erweist sich als erschreckend aktuell. In einem Land, in dem Menschen wegen Poesie eingesperrt werden und Terrorismus in Inszenierungen nicht entlarvt, sondern im Gegenteil dessen angebliche Romantik gerühmt wird, wirkt eine solche Handlung besonders ergreifend." Unter anderen politischen Umständen, so Tsoi, hätte "Meister und Margarita" auch international Erfolg gehabt.
"Vor der Hinrichtung haben alle Spaß"
"Das Böse wird nicht romantisiert, das Böse macht nicht einmal Spaß, es kommt einfach von selbst", so das bittere Fazit von Filmkritiker Sascha Montegrew: "Erwarten Sie kein Happy End." Angesichts des Schreckens in der realen Welt fielen die gezeigten Verbrechen des Teufels "nicht weiter ins Gewicht": "Besonders deutlich wird das in einer Partyszene der Partei- und Kunstelite, wo der titelgebende Meister und Voland auf der Suche nach Inspiration sind. Diejenigen, die berufsmäßig Spitzel unter den Kreativen rekrutieren, diejenigen, die ihre derzeitigen Trinkkumpane schon bald denunzieren und stigmatisieren werden, und diejenigen, die nackt dastehen, haben vor ihrer Festnahme und Hinrichtung alle noch mal ihren Spaß."
In russischen Leserforen hieß es, der Film habe "viel Subtext und Symbolik" und dadurch "tiefen Eindruck" hinterlassen. Was die Kritik von rechts betrifft, wurde höchst sarkastisch an ein Zitat des sowjetischen Schriftstellers Grigori Gorin (1940 - 2000) erinnert: "Wenn sie mich zensieren, komme ich damit klar, wenn sie mich ergänzen, wird es unerträglich." Andere sprachen abschätzig vom "neuesten Blödsinn", einer Vergewaltigung eines Klassikers und verlangten, nicht über die Qualitäten des Films zu diskutieren, sondern ausschließlich darüber, wer "riesige öffentliche Gelder für seine Entstehung" bereitgestellt habe - und warum: "Es wäre besser gewesen das Geld für die Erhöhung der Renten auszugeben." So voll seien die russischen Kinos schon lange nicht mehr gewesen, wollte ein Kritiker beobachtet haben: "Allerdings verließen auch lange nicht mehr so viele Anwesende vorzeitig den Saal."
Jenseits der politischen Auseinandersetzung widmeten sich manche Medien einem ganz anderen Aspekt des Films. Dort wirkt nämlich die sprechende schwarze Katze "Behemoth" mit, wie sie von Bulgakow erfunden wurde. Sie flucht, trinkt Wodka und frisst Pilzgerichte. Katze "Kescha" habe ohne Starallüren zehnstündige Drehtage absolviert, lobten Schauspieler: "Das Tier begann seine Karriere im Alter von vier Jahren auf Rassekatzen-Schauen und hat inzwischen mehr als hundert derartige Vorführungen absolviert."
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