"Von nun an und für immer und ewig wird Putin ähnlich verflucht sein wie Boris Godunow", so der russische Politologe Wladimir Pastuchow am Tag der Beerdigung von Alexej Nawalny. "Egal, was er sonst noch tut, Putin wird letztlich künftigen Generationen als 'Nawalnys Mörder' im Gedächtnis bleiben. Das hat nichts damit zu tun, ob er ihn tatsächlich umbringen ließ oder nicht, ob es bewiesen wurde oder nicht. Es ist, wie es ist, die Geschichte hat ihn gebrandmarkt. Er wird höchstwahrscheinlich wie Godunow enden, plötzlich und unerwartet. Und niemand wird etwas zu beweisen haben."
Damit spielte der in London lehrende Experte darauf an, dass der russische Präsident ja "sehr geschichtsinteressiert" sei und daher den angesprochenen, bis heute umstrittenen Bojaren-Fürsten aus dem frühen 17. Jahrhundert kennen dürfte.
"Er blieb für immer ein Heiliger"
Boris Godunow (1552 - 1605) wird ein Mordkomplott gegen den Zarewitsch Dmitri nachgesagt, einen Sohn seines Vor-Vorgängers Zar Iwan IV. (des "Schrecklichen"). Obwohl Godunow ein fähiger Herrscher gewesen sein soll, sei dessen "Stigma" nie verblasst, so Pastuchow in seiner aktuellen Analyse. Tatsächlich wurde der zwielichtige Godunow wegen seiner mutmaßlichen Tat sogar Opernheld: In Modest Mussorgskys gleichnamigem Werk von 1870 geht er elend an seinen Gewissensbissen zugrunde.
Über den zu Tode gekommenen Thronfolger Dmitri schreibt Politologe Pastuchow in seinem gleichnishaften Text mit klarem Bezug zu Nawalny: "Niemand weiß, was für ein Herrscher Zarewitsch Dmitri gewesen wäre, ob ein guter oder böser, ob ein Tyrann oder heiliger Narr auf dem Thron. Er wurde getötet, bevor er sich beweisen konnte, und er blieb für immer ein Heiliger. Sowohl in der Mythologie als auch in der Geschichte."
"Das werden Sie uns niemals nachweisen!"
Damit endete das Gleichnis nicht: Pastuchow zitierte auch einen berüchtigten Satz des russischen Botschafters bei der UNO in New York, Wassili Nebensja. Der hatte in einem Interview auf den Vorwurf, der Kreml habe Nawalny auf dem Gewissen, spontan geantwortet: "Das werden Sie uns niemals nachweisen!"
Dazu Pastuchow: "Vielleicht hat der kurzzeitige Zar Godunow, der sich heimlich durch die Hintertür auf den russischen Thron zwängte, lange vor Nebensja etwas Ähnliches gesagt." Der Experte erinnerte Putin an einen Ausspruch, der dem französischen Polizeiminister Joseph Fouché wohl fälschlich in den Mund gelegt wird. Der soll nach einer von Napoleon angeordneten Hinrichtung im Jahr 1803 geseufzt haben: "Das ist schlimmer als ein Verbrechen, das ist ein Fehler."
"Machte Putin ungemein wütend"
Mehrere Kommentatoren hielten es für "Bullshit", dass Putin jemals darüber nachgedacht haben soll, Nawalny gegen im Westen inhaftierte russische Staatsbürger auszutauschen. "Nawalny war sein persönlicher Feind", so der als "ausländischer Agent" gebrandmarkte Politologe Sergej Parkomenko: "Nawalny stellte für Putin eine persönliche Bedrohung dar. Er wurde wiederholt davon überzeugt, dass er ein sehr starker Gegner sei, so stark, dass er auch aus dem Gefängnis heraus, aus der Gefangenschaft, aus der Haft, aus einer Strafzelle weiterhin in der russischen Politik präsent war, Ideen verbreitete, Lösungen vorschlug, Debatten anregte, die Lage beeinflusste und so weiter. Ich denke, dass das Putin ungemein wütend machte, weil es wirklich so war." Der kremlkritische Mobilfunk-Unternehmer Jewgeni Tschitschwarkin sah es ähnlich.
"Lassen Sie sich nicht kaputt machen"
Starkolumnistin Ekaterina Winokurowa beantwortete auf einem der größten News-Kanäle mit 500.000 Fans die von ihr selbst gestellte Frage, ob es jetzt "keine Hoffnung mehr gibt und wir nur noch resignieren können" mit einem ausweichenden "ja und nein" und begründete das damit, dass die Zeit der "Charismatiker" mit Nawalnys Tod vorbei sei. Sie erinnerte bezeichnenderweise an einen Ausspruch des französischen Politikers Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754 - 1838), der mal sagte: "Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen."
Jetzt beginne die "Ära der müden und verängstigten" Zeitgenossen: "Es ist offensichtlich, dass das wichtigste und einzige politische Programm und Handlungsziel für Leute, die noch nicht ganz die Liebe zur Menschheit verloren haben, jetzt darin besteht, zu überleben. Verbrenne nicht im Feuer deiner eigenen Ideen, werde nicht der Erste in einem Sprint, sondern überlebe und halte durch, bis sich die Umstände so vollständig wie möglich geändert haben. Lassen Sie sich weder durch äußere Kräfte, noch durch Freunde oder sich selbst kaputt machen."
"Je machohafter, desto kindischer"
Polit-Bloggerin Ekaterina Schulman erklärte sich die Angst des Kremls vor Nawalnys Bestattung damit, dass Politiker "immer kindischer" würden, je machohafter sie aufträten: "Ich weiß nicht, ob sie wirklich eingeschüchtert sind oder absichtlich hinters Licht geführt werden oder sich gerne selbst betrügen." Das von Stalin verfolgte Prinzip "kein Mensch, kein Problem" funktioniere jedenfalls nicht immer so reibungslos wie ehedem. Nach der Beerdigung bleibe das Grab von Nawalny, das sicherlich zur Pilgerstätte werde, wie auch der Ort des tödlichen Attentats auf den Bürgerrechtler und Putin-Gegner Boris Nemzow (1959 - 2015).
Der sehr bekannte russische Journalist und Schriftsteller Dmitri Bykow meinte: "In Bezug auf das Ausmaß der Unterdrückung hat Putins Russland bereits die frühen Fünfziger, Stalins letzte dunkle sieben Jahre [nach dem Zweiten Weltkrieg], übertroffen. Im Februar ereignen sich gewöhnlich die größten Gräueltaten, der März ist in der Regel ein Monat der historischen Vergeltung, der März ist die Zeit der Abdankung [Stalin starb am 5. März 1953]. Das heutige Russland hat im Großen und Ganzen keine Angst mehr vor Putin, denn ein Mensch, der sich so verhält, löst keine Angst, sondern Verachtung aus. Auf die Angst, auf die Lähmung, folgt die Phase des Galgenhumors."
"Zur falschen Zeit pro-amerikanisch"
Politologe Konstantin Kalaschew meinte vieldeutig: "Manche Menschen verlassen diese Welt lebendig. Andere sterben lange vor ihrem physischen Tod." Das bezog sich auf ein in Russland berühmtes Zitat des sowjetkritischen Schriftstellers Sergej Dowlatow (1941 - 1990), der sich tiefgründige Gedanken gemacht hatte über den Unterschied zwischen einer "Leiche und einem Verstorbenen", also der sterblichen Hülle und dem Vermächtnis eines Menschen.
Der kremlnahe Propagandist Sergej Markow lobte Nawalny am Tag der Beisetzung als "klugen, charismatischen Politiker mit einem sehr modernen Arbeitsstil", der in Russland eine "große politische Zukunft" hätte haben können, auch wegen seiner Anti-Korruptions-Aktionen: "Nawalnys politische Tragödie besteht darin, dass er zu einer Zeit pro-amerikanisch war, als sich Amerika von einem schwierigen Partner Russlands zu einem offenen Feind Russlands wandelte." Später ergänzte Markow, die Trauergäste hätten sich "falsche Anschuldigungen" gegen Putin nicht verkneifen können.
"Was hat das für einen Wert?"
Propagandist und Blogger Andrej Medwedew (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Ex-Präsidenten) wetterte, die "einzig angemessenen" Trauergäste seien die nahen Verwandten und die Polizisten gewesen, alle anderen seien "eine Ansammlung von Verrückten". Kriegsblogger wollten "keine weiteren Fragen" mehr haben, nachdem Beerdigungsteilnehmer "Ehre diesem Helden" angestimmt hatten, die meisten Medien ignorierten das Thema, wohl auf massiven Druck der Zensurbehörden.
Einer der ultrapatriotischen Frontberichterstatter wollte dem Verstorbenen nach eigenen Worten zwar nichts Schlechtes nachrufen, hielt die Trauergemeinde jedoch für "Idioten": "Was hat diese Person für das Land Gutes getan? - Nichts. Er wollte aufgeben und das Land verkaufen, er konnte nicht mal genau sagen, was er machen würde, wenn er Präsident wäre. Einer seiner Aussagen zufolge sollten wir aufhören, den Kaukasus zu durchzufüttern und die Ausgaben für die Armee reduzieren, was hat das für einen Wert?"
"Gewohnte Depression und Ohnmachtsgefühle"
Der systemnahe Politologe Michail Winogradow verwies darauf, dass der Kreml sich mit den massiven Absperrungen womöglich rein optisch keinen Gefallen tat: "Ein Foto, das die Länge der Warteschlange [nach Augenzeugenberichten etwa ein Kilometer] dokumentiert, wirkt auf Oppositionelle attraktiver und dynamischer als die gleiche Anzahl von Menschen, die sich auf einem freiem Platz versammelt." Die Trauergäste würden vermutlich schon bald wieder in die "gewohnte Depression und Ohnmachtsgefühle" zurückfallen.
Kremlsprecher Dmitri Peskow weigerte sich auf Nachfrage von Journalisten, Nawalny als Politiker "einzuschätzen" und beließ es beim Hinweis, russische Gesetze müsst en befolgt werden: "Jede nicht genehmigte Versammlung verstößt dagegen und dementsprechend werde alle, die daran teilnehmen, zur Rechenschaft gezogen."
Exil-Blogger Anatoli Nesmijan unterstellte Peskow daraufhin "null Mitgefühl": "Das ist ein charakteristisches Merkmal des heutigen Kremls. Die Person ist doch tot, da könnten sie zumindest Standardfloskeln und etwas Anteilnahme absondern. Aber selbst das sehen sie so schwer ein wie einen undurchdringlichen Wald."
"Davor hatten die Behörden Angst"
Die in Amsterdam erscheinende "Moscow Times" will von zwei "hochrangigen Generälen" aus dem russischen Innenministerium erfahren haben, dass Putin ausgesprochen nervös sei und die Bestattung als "Stresstest" für die Ordnungsorgane gefürchtet habe. Dem Kreml sei es darum gegangen, Bilder wie vom Massenaufmarsch bei der Beerdigung des sowjetischen Dissidenten Andrej Sacharow im Jahr 1989 unter allen Umständen zu verhindern: "Die Führung braucht keine Wiederholung."
"Das ist genau, wovor die Behörden Angst hatten", kommentierte Exil-Politologe Abbas Galljamow TV-Bilder von singenden Menschen bei der Bestattung, die von "nationaler Bedeutung" sei. Diesen Eindruck teilten Beobachter, die angesichts der zahlreichen Trauernden bemerkten, so sehe also eine Beisetzung für einen Menschen aus, der nach Kreml-Angaben "irrelevant" sei.
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