"Die relativ gute Zeit für die russische Wirtschaft, die auf zuvor angesammelten Rücklagen beruhte, ist vorbei", so Oleg Wijugin, ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der Zentralbank, gegenüber der in Amsterdam erscheinenden "Moscow Times": "Die hohe Inflation macht all diesen offenbar kurzfristigen Erfolg zunichte."
Anlass für diese pessimistische Äußerung sind die neuesten Zahlen der russischen Statistikbehörde, wonach sich die Geldentwertung über die Jahreswende weiter beschleunigte. Besonders teuer wurden demnach Wodka, Eier und Fisch, aber auch Obst und Gemüse. Wie zuverlässig die offiziellen Zahlen sind, darüber gehen selbst in Russland die Meinungen weit auseinander. Allerdings gilt es als Alarmsignal, dass selbst die veröffentlichten Daten so negativ sind.
"Erheblicher Teil nicht an Spezialoperation beteiligt"
"Sehr schlechter Jahresauftakt", fasst einer der Wirtschaftsexperten die Lage zusammen. Der Chef des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM, Waleri Fjodorow, sieht in einem Interview mit der kremlnahen "Rossijskaja Gazeta" bereits einige "schwarze Schwäne" im Anflug, also unvorhergesehene negative Entwicklungen: "Wir verloren alle Privilegien, haben jedoch noch keine neuen in Aussicht."
Konkret fürchtet Fjodorow eine "Stagflation", also eine Wirtschaftskrise bei rasanter Geldentwertung, ohne freilich auf die hohen Kriegskosten hinzuweisen: "Die Zentralbank tut alles, um die Inflation zu senken, aber wenn sie darauf abzielt, läuft sie Gefahr, die Wirtschaft abzuwürgen." Mit dem Patriotismus ist es nach Auffassung des Soziologen auch nicht weit her: "Es muss gesagt werden, dass ein erheblicher Teil unserer Mitbürger sich nicht an der Spezialoperation beteiligt, weder tatsächlich, noch geistig, noch finanziell – in keiner Weise."
In Russland fehle es am Dialog zwischen Politik und Gesellschaft, beklagte der Chef-Demoskop: "Wenn sich Unternehmen, Regierung und gesellschaftliche Gruppen nicht verständigen können und sich dadurch überhaupt nichts ändert, verharzt das Leben wie eine Fliege im Bernstein. Das ist nicht gut!"
Derweil ergab eine aufsehenerregende interne Umfrage, dass rund 70 Prozent der russischen Unternehmen nach eigenen Angaben unter dem Sanktionsdruck leiden und mit der offiziellen Propaganda von einer "Überhitzung der Konjunktur" überhaupt nichts anfangen können, wie das Wirtschaftsblatt "Wedomosti" meldete.
Vor allem der hohe Leitzins der Zentralbank von derzeit 21 Prozent sorgt für miese Stimmung, zumal wegen der sich beschleunigenden Inflation eine weitere Erhöhung droht: "Diese Ergebnisse bedeuten, dass die Bank von Russland den Sinn ihrer Politik gegenüber der inländischen Wirtschaft zumindest sehr schlecht erklärt und im schlimmsten Fall sogar einen schwerwiegenden Fehler begeht."
"Rubel stärker gefallen als an der Börse sichtbar"
Blogger verwiesen darauf, dass der Zentralbank weitgehend die Hände gebunden seien: "Es ist unmöglich, die Situation radikal zu ändern. Äußerstenfalls ließe sich die Lage durch eine Einstellung der Feindseligkeiten stabilisieren. Das ist jedoch keineswegs das Vorrecht der Zentralbank."
Politologe Wladislaw Inosemtsew hält es für "ganz offensichtlich", dass der Lebensstandard älterer Russen nicht gewährleistet werden könne: "Meiner Meinung nach haben die russischen Finanzbehörden keine Chance, die Inflation im Jahr 2025 in den Griff zu bekommen – der offizielle Wert wird zehn Prozent übersteigen, die [gefühlten] Schätzungen der Verbraucher werden sich zwanzig Prozent annähern."
Russische Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" zeigten sich aufgebracht über die neuesten Zahlen zur Inflation: "Niemand hasst das Land so sehr wie die russische Regierung", schrieb einer. Es werden schlimme Zeiten erwartet: "Die Russen beginnen offenbar, die Folgen des Rubel-Verfalls zu spüren. In Wirklichkeit ist der Rubel offenbar stärker gefallen, als an der Börse sichtbar wird, das heißt, wir bewegen uns in Richtung Kuba – erschwinglich sind Brot und Nudeln. Der Rest ist wohlhabenden Bürgern vorbehalten, nur sind wir im Gegensatz zu Kuba der größte Produzent von Nahrungsmitteln (bzw. deren Rohstoffen) auf dem Weltmarkt."
"Guten Appetit"
Manch einer prophezeite bereits eine Geldentwertung von 32 Prozent, an Spott fehlte es auch nicht: "Lassen Sie mich die Unzufriedenen und Empörten noch einmal daran erinnern, dass Ihre Regierung nicht vom Mars auf die Erde kam. Sie haben das alles selbst gesät und gehegt, nun ist es Zeit zu ernten. Guten Appetit." Es ginge ja noch an, wenn "frische Gurken und Tomaten" im Preis stiegen: "Aber Milch, Eier, das ist gruselig!! Was werden Rentner tun?"
Das nüchterne Fazit des kremlnahen Bloggers Dmitri Sewrjukow (53.000 Fans): Russland werde sich durch die Inflation zwar nicht "einschüchtern" lassen und auch keine Lebensmittelkarten drucken, aber: "Die Wirtschaftsnachrichten vom Jahresanfang sprechen für den Verhandlungsprozess mit dem Ziel, den Sanktionsdruck zu verringern."
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