Nachgeben ist keine Option
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"Russen mögen keine Kompromisse": Setzt Putin auf Eskalation?

"Russen mögen keine Kompromisse": Setzt Putin auf Eskalation?

Der Tod sei in jedem Fall besser als jedes Einlenken im Ukraine-Krieg, meint der Chef des staatlichen russischen Meinungsforschungsinstituts. Nachgeben entspreche nicht der Mentalität seiner Landsleute. Politologen reagieren höchst unterschiedlich.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"In der angelsächsischen Kultur gelten Kompromisse als positiv, auch in der chinesischen Kultur", so Waleri Fjodorow, der Chef des staatlichen russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM in einem Interview mit dem Propagandablatt "Komsomolskaja Prawda". Für sein eigenes Land lässt der kremlnahe Soziologe das ausdrücklich nicht gelten und löste damit eine Debatte aus: "In unserer rauen, unverfälschten und auf informellen Beziehungen beruhenden Kultur gelten Kompromisse als schlecht. Wir wollen eine faire und gerechte Weltordnung, und ich denke, das ist momentan unmöglich."

In diesem Zusammenhang verwies Fjodorow auf einen 1981 erschienenen Satire-Band des im amerikanischen Exil verstorbenen russischen Autors Sergej Dowlatow (1941 - 1990). Dort verarbeitete der Schriftsteller unter dem Titel "Der Kompromiss" in zwölf Fallbeispielen seine grotesken Erfahrungen als Zeitungsreporter im sowjetischen Estland (die deutschsprachige Übersetzung erschien 2008).

Auf der Suche nach "richtiger Nationalität"

Diese Anekdoten machten deutlich, dass der Opfertod etwaigen Zugeständnissen stets vorzuziehen sei, so Fjodorow. Dabei sind die in dem genannten Buch gesammelten, aus dem Journalisten-Alltag gegriffenen "Kompromiss"-Episoden allesamt wenig tauglich als moralische Orientierungshilfe, ganz im Gegenteil. Dowlatow beschreibt, wie der Sarg eines berühmten sowjetischen Fernsehchefs in der Leichenhalle vertauscht wird, wie er auf der Suche nach dem 400.000. in der estländischen Hauptstadt Tallinn geborenen Baby auf dessen "richtige" Nationalität und gesellschaftliche Stellung achten soll und wie er den Auftrag bekommt, Nationen nicht mehr alphabetisch aufzuzählen, sondern in der Reihenfolge von deren "Loyalität" gegenüber dem Kreml.

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Halb begeistert, halb befremdet über Fjodorows Ansichten und dessen merkwürdigem "Literatur-Tipp" schrieb der russische Politikberater Jaroslaw Ignatowski: "Das Interview ist so cool, dass völlig unklar ist, wo er es ernst meint, wo er meta-ironisch ist und wo er sogar Witze macht." Gleichwohl könne das Gespräch wegen der "Klarheit im Denken" absolut zur Lektüre empfohlen werden.

Dagegen gab Blogger Anatoli Nesmijan (121.000 Fans) zu bedenken: "Für ein so großes Land wie Russland ist es im Allgemeinen schwierig, Aussagen über eine gemeinsame Mentalität zu machen, einschließlich kultureller Codes. Während [Putins Geburtsstadt] St. Petersburg zum Beispiel wirklich einen harten geschäftlichen Umgangston bevorzugt und zu Recht als 'Gangsterhauptstadt' des Landes gilt, zeigt sich Moskau seit jeher zur Verständigung einschließlich berüchtigter Kompromisse bereit."

Putin: "Politik ist Kunst des Kompromisses"

Höchstwahrscheinlich wolle Meinungsforscher Fjodorow mit der demonstrativen Absage an Kompromisse den Durchhaltewillen stärken, vermutete Nesmijan, und berufe sich deshalb auf eine angebliche "russische" Mentalität, die jegliche Zugeständnisse ausschließe: "Aber es ist irgendwie sehr respektlos gegenüber diesem Land, den Umgangston der Hinterhöfe und ihrer Punks für alle gelten zu lassen. Russland ist immer noch größer und weiter als die Schlupfwinkel der Banditen."

Jenseits der aktuellen Debatte gibt es genug Ultrapatrioten, die tatsächlich jedes politische Einlenken ablehnen, darunter der Chefredakteur des russischen Fachblatts "Global Affairs", Fjodor Lukjanow: "Der Westen ist dafür, das zu bewahren, was sich seit 1991 entwickelt hat. Russland ist dafür, es zu ändern. So gesehen nimmt die Konfrontation einen grundsätzlichen Charakter an, der keinen Kompromiss nahelegt."

"Krieg ist Putins Lebensform"

Dabei hatte Putin bei seinem mehrstündigen TV-Auftritt im Dezember gesagt: "Politik ist die Kunst des Kompromisses. Wir haben immer gesagt, dass wir zu Verhandlungen und Kompromissen bereit sind. Es ist nur so, dass die andere Seite sich im wörtlichen und im übertragenen Sinne geweigert hat, zu verhandeln."

Der in London lehrende russische Politologe Wladimir Pastuchow hält das für eine hohle Phrase: "Putin wird nur dann einen Kompromiss eingehen, wenn die Risiken einer Fortsetzung des Krieges für ihn persönlich die Risiken seiner Beendigung übersteigen. Wir müssen uns stets in Erinnerung rufen, dass Putin diesen Krieg nicht begonnen hat, um ihn einfach so zu beenden. Wenn für Puschkin der Gegenstand jeder Poesie die Poesie als solche war, dann ist für Putin das Ziel des Krieges der Krieg selbst. Putin braucht den Krieg als Fundament seiner Herrschaft, nicht als Vorgang. Krieg ist Putins Lebensform."

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