Anthony Tyrer wurde zur Polizei vorgeladen. Zusammen mit zwei Freunden hatte er, 15 Jahre alt und auf der zu Großbritannien gehörenden Isle of Wright lebend, einen Klassenkameraden geschubst und ihm wehgetan. Laut Gesetz gab es dafür drei Schläge mit der Route, in Anwesenheit des Vaters und eines Arztes. 1972 war das – Anthony Tyrer wollte sich mit dieser Bestrafung nicht abfinden. Er wandte sich an die Europäische Menschenrechtskommission und schließlich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, erzählt die Juristin Angelika Nußberger. "Und der Gerichtshof musste sich damit auseinandersetzen, ob er einen Standard anwenden kann in den 70er Jahren, der vielleicht in den 50er Jahren noch kein Standard war für das Verständnis der Menschenwürde."
Am Beispiel dieses und anderer interessanter Verfahren am Europäischen Gerichtshof erzählt Angelika Nußberger von den Menschenrechten. Die Münchner Künstlerin Rotraut Susanne Berner hat, mit Buntstift, symbolische Illustrationen und Vignetten für die einzelnen Kapitel gezeichnet. Bei der Geschichte von Anthony Tyrer etwa sieht man ein Mädchen im roten Kleid in der Ecke stehen, unter einer nackten Glühbirne, es hält sich die Augen zu. Dazu der Satz: "Niemand darf der Folter oder grausamer oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden."
Nußberger lehrt Verfassungs- und Völkerrecht
Angelika Nußberger sorgt sich um die Menschenrechte in der Gegenwart. "Wir haben das Gefühl, dass die Menschen nicht mehr so im Mittelpunkt stehen, wie sie eigentlich im Mittelpunkt stehen sollten – sondern dass die Interessen von Staaten und große Pläne und Agenden im Mittelpunkt stehen."
Auch deshalb dieses Buch. Angelika Nußberger lehrt Verfassungs- und Völkerrecht an der Universität Köln. Sie war acht Jahre lang als Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte tätig, zwei davon als Vizepräsidentin. Sie erinnert, mit Blick auf die Verschiebung vom Blick auf die Menschen zu den Interessen von Staaten, an den Umgang mit Flüchtlingen. "Wir wissen, dass hinter jedem Flüchtling eine schwierige, eine traurige, eine dramatische Geschichte steht. Und die Flüchtlinge werden instrumentalisiert in der internationalen Politik."
Die Geschichte einer großen Idee
Themen wie Flucht und Migration, aber auch die Situation in Russland unter Putin nehmen im Kinderbuch über die Menschenrechte, ihre Geschichte und auch ihre Philosophie eine wichtige Rolle ein. Angelika Nußberger und Rotraut Susanne Berner widmen sich auch dem Schutz der Umwelt. Sie erinnern an die Klagen von portugiesischen Jugendlichen und von den Schweizer Klimaseniorinnen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Die erste wurde negativ beschieden, die andere nicht – da sich die Schweizer Klimaseniorinnen zunächst an ein Gericht in ihrem Land gewandt hatten. Mit dieser Geschichte habe man zeigen wollen, "wie hier ganz neue Themen in ein altes Korsett quasi gebracht werden", sagt Nußberger. "Denn die Menschenrechts-Konvention enthält kein Recht auf Klimaschutz. Sie enthält noch nicht einmal ein Recht auf Umweltschutz. Aber sie enthält ein Recht auf Privatsphäre, in das man es hineininterpretieren kann."
Ein leises, immer wieder erhellendes Buch, anschaulich erzählt, feinsinnig bebildert und auch ästhetisch schön gestaltet: Es zeigt die Geschichte einer großen Idee und ihre beständige Fortschreibung. Angelika Nußberger und Rotraut Susanne Berner erinnern auch daran: Neben den Menschenrechten dürfen auch die Menschenpflichten nicht vergessen werden.
"Frei und gleich. Die Menschenrechte". Das Buch von Angelika Nußberger und Rotraut Susanne Berner ist im Beck-Verlag erschienen. Am Sonntagvormittag wird es im "Haus der Kunst" vorgestellt, bei der Münchner Bücherschau, mit Angelika Nußberger und Rotraut Susanne Berner. Das traditionsreiche Münchner Lesefestival wird präsentiert von Bayern 2.
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