Die populäre Musik ist demokratische Kunst. Das Parlament des Pop heißt Hitparade. Sie ist ein Spiegel der Gesellschaft. Es gibt vereinigte Staaten, die sich den stimmlichen Quintensprüngen einer Taylor Swift unterwerfen oder Pop-Nobelpreisträger hervorbringen. Italien hat die Reibeisenstimme von Adriano Celentano zum Fürsprecher gewählt. Südkorea huldigt den unbegreiflichen Niedlichkeiten des K-Pop.
Streben ins Scheinwerferlicht
Aus dem Spiegel, in den die Bundesrepublik blickt, schauen merkwürdige Gesichter zurück: Da ist das atemlose Gejubel der Wolgadeutschen Jelena Petrowa Fischer oder aber der heute 70 Jahre alte Pop-Titan Dieter Günter Bohlen aus dem Landkreis Wesermarsch. Den "Günter" hat sich der Dieter amtlich entfernen lassen. Das BWL-Studium hat er abgeschlossen. Seine Phase als Mitglied der DKP hat er hinter sich. Mars und Engels hat er studiert und - wie er bei Kerner sagt - " auch gut gefunden".
Statt Klassenkämpfer mit geballter Faust wird Bohlen Angestellter. Dass er es von einem Büro im Musikverlag bis an die Spitze der Hitparaden geschafft hat, verdankt er auch dieser Tonfolge: Ricky King, von Bohlen als "abgehalfterter Gitarrero" bezeichnet, spielt 1981 auf der E-Gitarre mit eingefrorenem Grinsen eine seltsame, von Bohlen erdachte Mini-Melodie, im Vordergrund tanzten dazu 3 Mädchen in 3 knappen Glitzerbikinis. Bohlen hat für seinen Arbeitgeber damit eine halbe Million und eine goldene Schallplatte verdient. Aber er will selbst ins Scheinwerferlicht. So schreibt er zu dem Instrumental einen Text und singt ihn mit der Gruppe "Sunday" in der Hitparade selbst.
Durch die Decke mit Modern Talking
Natürlich war das kein Erfolg. Dieter Bohlen – umrandet von zwei Ehefrauen zweier Plattenbossen - singt nicht gut, grinst überbreit und ballt seine Faust zu den wenigen verfügbaren Tönen. Es dauerte noch 3 Jahre bis er mit dem echten Sänger Thomas Anders eine Band gründet. Den Text zum Groß-Hit "You’re my Heard, your my soul" will er in einer halben Minute geschrieben haben. Es gibt nichts, was gegen diese Aussage spricht. Die Band soll "Turbo-Diesel" heißen. Zum Glück wirft Sekretärin Petra einen Blick in die Hitparade wo die Bands gerade "Talk Talk" und "Modern Romance" heißen. So entstand "Modern Talking" … es folgt eine Weltkarriere, 1000e von Goldenen Schallplatten, Millionen Hirne, die von genialen "Cherrie Cherrie" Ohrwürmern verklebt werden, Ruhm, Reichtum, Beziehungsdramen … und ein Bohlen, der immer noch nicht ernst genommen wird,
Bohlen: "Talent + arbeiten +arbeiten + arbeiten + arbeiten"
All dies wissen wir – außer von billigen Zeitschriften - aus der Autobiographie "Nichts als die Wahrheit", die Bohlen mit Katja Kessler, der Frau des damaligen Bild-Herausgebers, 2002 verfasst. Gleich auf Seite eins werden die wichtigen Fragen beantwortet: "Lieber Dieter, wie kriegt man soviel Kohle? Wie kriegt man so viele Frauen, wie kriegt man so viele Autos?"– Der liebe Dieter antwortet: "Talent + arbeiten +arbeiten + arbeiten + arbeiten – dann kommt irgendwann auch die Kohle. Und haste Kohle, haste Frauen, haste Autos." – Man beachte die Reihenfolge. Es folgten Revivals, noch mehr Frauen, noch mehr Autos.
Bohlen: "Haste Kohle, haste Frauen, haste Autos"
Das 21. Jahrhundert wäre womöglich nicht das Zeitalter des Dieter Bohlen gewesen. Vielleicht hätte ihn das Schicksal erreicht, das er an Stars wie Drafi Deutscher so verachtete, die es – immer seine Worte – vom "Millionär zum Tellerwäscher" schafften. Doch dann kamen die Castingshows und Dieter Bohlen gelang es, sich mit der Ideologie "haste Kohle, haste Frauen, haste Autos" als Pop-Weiser mit schlechten Manieren ein blondes Monument zu errichten. Als selbst der Privatsender glaubte, die Zeit für Bohlen-Sprüche sei in woken Zeiten vorbei und Dieter Bohlen entließ, musste der Sender schnell zurückrudern.
Heute Abend wird Bohlen sich zum Geburtstag in Berlin ein Konzert schenken. Er wird der umjubelte Star sein, der nicht singen kann, seine Lederjacke anhaben, Cherry Cherry-breit grinsen und dazu die Hand zur Faust ballen. Dieter Bohlen, das Genie des Banalen, das folglich Deutschland ist, ist der Beweis, dass es jeder, wirklich jeder Dieter schaffen kann. Danke dafür, alles Gute, titanblonder Riese!
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