Da ist etwa Raja, eine Russischlehrerin aus Rubischne im Osten der Ukraine. Als der Krieg begann, war sie in der 20. Woche schwanger. Sie erzählt Katerina Gordeeva, dass sie nicht wisse, ob sie ihre im Krieg geborene Tochter liebe oder nicht. Sie könne nicht stillen, erklärt sie, und überhaupt habe sie noch nicht einmal gewusst, wie sie ihre Tochter denn nennen solle. Warum sich die Mutter-Kind-Beziehung so sperrig gestaltet, erfährt man wenig später. Die Familie war in einen Angriff geraten, bei dem Rajas Mann und ihre ältere Tochter Ilana ums Leben gekommen sind.
Katerina Gordeevas Rolle als Reporterin aus Russland, dem Land der Angreifer, spielt in ihr Buch "Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg" auf komplexe Art und Weise mit hinein. Da ist die Unsicherheit, Russisch zu sprechen, die Scham, Russin zu sein, die Irritation, für Russland verantwortlich gemacht zu werden.
Katerina Gordeeva hat auch Familie in der Ukraine, Onkel, Cousin und Cousine leben in Kiew. Es sei sehr schwer zu erklären, "was ein Mensch fühlt, der in diesen russisch-ukrainischen Zwischenwelten aufgewachsen ist und für den beide Länder ein Zuhause sind", sagt Gordeeva.
Die Geschichten gleichen kurzen Filmen
Das Buch "Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg" für das Katerina Gordeeva nun mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wird, umfasst 24 Geschichten aus dem Krieg. Sie gleichen Short-Cuts, die Dramaturgie der Erzählungen, die Bilder, die aufgerufen werden, mitunter auch das Pathos sind dem Film entlehnt. Da "zerplatzt" etwa eine Brombeere in der Hand der Reporterin und "der dunkelrote Saft" läuft über die Finger,wie es im Buch heißt.
Der Film "Menschen im Krieg" sei zuerst dagewesen, sagt Gordeeva. "Aber im Film war nicht Platz für alle Schicksale, von denen ich im Buch erzähle. Manche Geschichte ist auch erst passiert, als ich den Film schon abgeschlossen hatte. Wir haben gleich nach Kriegsbeginn gedreht, da hatten die Leute noch keine Angst zu reden und für viele war es überhaupt das erste Mal, dass sie mit jemandem gesprochen haben."
Der Krieg fährt mitten durch Familien
Die Stärke des Buches liegt vor allem in der Sichtbarmachung der Verwobenheit der Leben zwischen Russland und der Ukraine. Der Krieg fährt mitten durch Familien, mitunter sind beide Seiten unter Beschuss, Eltern und Kinder werden getrennt, Ukrainer werden von russischen Chirurgen auf russisch besetztem Gebiet notoperiert und Ukrainer aus dem Osten des Landes sprechen selbstverständlich untereinander russisch, weil sie das immer so gemacht haben.
Es liegt der Autorin zu Recht viel daran, diese Verflochtenheit immer wieder aufzuzeigen. Für Danila aus Mariupol, der im Krieg ein Bein verloren hat, ist es jedenfalls keineswegs ausgemacht, wer für sein Leid verantwortlich ist. Er zieht sich auf die Antwort zurück, dass es "die Umstände" waren. Ist das jetzt eine Art Weichzeichnung? Diese eher vagen, verschwommenen Konturen haben Katerina Gordeeva wohl auch beflügelt, ihrem Buch ausgerechnet ein Joseph Brodskij Zitat voranzustellen: "Der Hass eilt von Süden nach Norden dem Frühling auf Flügeln voraus."
In seinem Gedicht "Auf die Unabhängigkeit der Ukraine" von 1992 erprobt Brodskij allerdings selbst den Hassausbruch gegenüber Ukrainern und verunglimpft sie als "Dreckspack", das mit den "Fritzen" und "Pollacken" im Bunde Russland verraten habe. "Nimm meinen Schmerz" ist ein Balanceakt – das Buch verteidigt die interkulturellen Mischverhältnisse zwischen beiden Ländern. Aber genau diese Kultur im Plural nutzt Putin für seine imperialistischen Ziele.
"Nimm meinen Schmerz . Geschichten aus dem Krieg" von Katerina Gordeeva wurde von Jennie Seitz aus dem Russischen übersetzt und ist bei Droemer erschienen. Das Buch kostet 24 Euro.
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