"Gib dir einen Ruck", forderte ein russischer Leser Wladimir Putin sarkastisch auf: "Der rumänische Präsident Nicolae Ceausescu schaffte doch auch 97 Prozent Zustimmung." Nach offiziellen Angaben liegt Putin ungefähr zehn Prozent darunter, wobei sich seine Gegner und Kritiker einig sind, dass auch das ein manipuliertes Wunschergebnis ist, das mit der tatsächlichen Stimmungslage wenig zu tun hat.
Ein findiger Kopf rechnete nach, dass Putin bei den letzten Wahlgängen seit 2012 jeweils zwölf Prozentpunkte zulegte, so dass die 100 Prozent Zustimmung spätestens beim nächsten Urnengang 2030 erreicht sein dürften. Bisher "schaffte" der Präsident das annähernd nur in der kaukasischen Region Tschetschenien. Selbst die 100-Prozent-Grenze werde einen wie Putin jedoch nicht "bremsen", war zu lesen.
"Fan-Fiction im Stil der Apokalypse"
"Die Igel jammerten, bekamen Schmerzmittel, knabberten aber weiter an den Kakteen", so das vielsagende Gleichnis eines Humoristen. Ähnlich witzig drückten sich Putin-Unterstützer aus, allerdings unfreiwillig: "Ich hatte eine schwierige Kindheit. Erst mit Putin wurde alles gut." Diese Äußerung wurde von Kreml-Kritikern prompt als "Fan-Fiction im Stil der Post-Apokalypse" bezeichnet. Vermutlich habe der Kreml nur den Intelligenzquotienten der Bevölkerung abgefragt, bevor er alle Menschenrechte abschaffe, so ein Leser aus dem Ural über die "Wahl".
Exil-Politologe Wladimir Pastuchow sprach von einer "Wahlsimulation" und sagte für die nahe Zukunft die "vollständige Wiederherstellung sowjetischer Zustände" voraus: "Es ist unmöglich, gegen einen Betrüger anzutreten. Wenn Sie das Spiel beginnen, haben Sie schon verloren." Immerhin habe der Kreml viele Russen "emotionalisiert" und die Wahlbeteiligung tatsächlich hochgetrieben: "Aber ich bin nicht bereit, Putin dafür zu danken oder das als Kennzeichen einer Demokratie zu betrachten."
"Putin hat wunderbare Gene"
So sehen es offenbar auch viele Russen. Die Kommentarspalten der Medien quellen über mit spöttischen Bemerkungen zu Putins "Wiederwahl": "Nach Gesprächen mit Kollegen und Bekannten bin ich zum Schluss gekommen, dass ich mich ab jetzt ausschließlich mit denen abgebe, die nicht für Putin gestimmt haben", so ein Leser aus St. Petersburg. Andere behaupteten, sie hätten bisher gar nicht gewusst, "wie viele Rentner und Beamte" das Land habe - eine Anspielung auf Putins treueste Wählerbasis. Sicherlich werde der Präsident jetzt alle Russen "ins Paradies führen". Ein mutiger Leser meinte: "Wenn einer der Kandidaten mehr als 50 Prozent erreicht, deutet das für mich auf eine ungesunde Gesellschaft sowie auf aktuelle und zukünftige Probleme hin."
Andere empfahlen ihren Landsleuten, schon mal den "Seesack" zu packen, denn Putin werde demnächst eine neue Mobilisierungswelle anordnen: Seine Fans sollten sich schon mal als erste in die Schlangen vor den Rekrutierungsbüros einreihen. Die Zeit werde es keineswegs richten: "Die Liberalen brauchen nicht abzuwarten. Neulich starb Putins Cousin im Alter von 91 Jahren. Putins Eltern wurden beide 90 Jahre alt. Der Präsident hat wunderbare Gene und kümmert sich sehr gut um seine Gesundheit. Ich bin mir sicher, dass er uns bis zu seinem 105. Lebensjahr mit seiner Arbeit begeistern wird. Fünf weitere Amtszeiten von mindestens sechs Jahren!"
"Wir werden das Ergebnis nicht mehr erleben"
Exil-Politologe Anatoli Nesmijan erging sich in ähnlich düsteren Prophezeiungen. Wunder seien nicht zu erwarten, das Putin-Regime werde sich "bis zum Ende" an die Macht klammern: "Aus offensichtlichen Gründen kann ich als Fachmann, der sich seit geraumer Zeit mit sozialen Krisen, Katastrophen und damit verbundenen Prozessen beschäftigt, mit voller Zuversicht sagen, dass das derzeitige Regime am Ende ist. Und aus rein menschlicher Sicht hoffe ich, dass wir nach dem Zusammenbruch eine Chance haben, etwas Humaneres zu schaffen. Leider nicht mehr für uns, denn auch wir sind endlich, und selbst die wunderbarste Regierung, selbst wenn sie morgen anfängt, wird noch ein paar Generationen lang aufräumen müssen, was das derzeitige Regime dem Land angetan hat. Wir werden das Ergebnis also nicht mehr erleben, obwohl die Möglichkeit besteht, dass wir zumindest einen Trend wahrnehmen."
"Noch langweiliger und vorhersehbarer"
Der systemtreue Kolumnist Sergej Markow behauptete trotzig, die Meinung des Westens "spiele keine Rolle" und begründete das groteske "Wahlergebnis" so: "Alle Kandidaten waren bei dieser Wahl für Putin und arbeiteten daran, die Legitimität seines Sieges zu stärken. Das ist Demokratie, denn das war der Wille ihrer Wähler – nicht gegen Putin zu sein, sondern ihm zur Seite zu stehen."
Hinter vorgehaltener Hand sollen "kremlfreundliche Politologen" jedoch signalisiert haben, dass sie Putins Zahlen für "übertrieben und unnötig" halten, wie Kolumnistin Tatjana Kantseljarija unter Berufung auf anonyme Quellen berichtet: "Dafür gibt es keine logische Erklärung." Das "Wahlergebnis" werde jetzt wie ein "Damoklesschwert" über den Gouverneuren in den Regionen hängen, die alle künftigen Abstimmungen "noch langweiliger und vorhersehbarer" machen müssten.
"Dem Chef gefällt es"
Wie das Exil-Nachrichtenportal "Meduza" schreibt, hatte der Kreml kurz vor der Wahl den Gouverneuren vermittelt, dass 80 Prozent für Putin ein "absolutes Minimum" seien. Die Regionen im Fernen Osten hätten dann vorsichtshalber 85 Prozent-Ergebnisse veröffentlicht und den westlicheren Landesteilen damit eine Vorgabe gemacht. Ein hochrangiger Putin-Mitarbeiter wird zitiert: "Egal, was jemand behauptet: ‚sie sind über das Ziel hinausgeschossen‘, ‚sie haben es übertrieben‘ – sie werden für diese Art Sieg wohl kaum zur Rechenschaft gezogen. Dem Chef gefällt es. Er empfindet das als echte Unterstützung. [Kreml-Manager] Sergei Kirijenko weiß, wie man Putin alles präsentiert und verkauft. Das ist die Hauptsache."
Bei Exil-Russen liegt Putin hinten
Politologe Dmitri Michailitschenko erwartet in der näheren Zukunft zwar keine "Massenrepressionen", weil diese wirtschaftliche Probleme mit sich bringen würden, aber eine "strukturelle Umerziehung Andersdenkender" mit Anleihen bei Ländern wie China, Belarus und dem Iran. Putin werde trotz aller Schwierigkeiten versuchen, ein gewisses "Gleichgewicht" zu halten: "In der Kreml-Elite weiß fast jeder, dass sie wirtschaftlich aktive und gebildete Bürger brauchen, die zwar nicht bereit sind, sich dem Regime offen zu widersetzen, aber gern weniger Stress hätten und die Feindseligkeiten beenden möchten. Hinzu kommt das Verhalten der jungen Leute, die eine ganz andere Einstellung haben als Rentner."
Kremlkritischen Telegram-Kanälen konnten Interessierte entnehmen, dass Putin in ausländischen Wahllokalen deutlich weniger Zustimmung fand als im Inland: So verlor er zum Beispiel haushoch in Warschau, Prag, Den Haag, Vilnius und Haifa. Auch in Seoul und Phuket lag er bei den dort abstimmenden Emigranten unter 50 Prozent. Die in Amsterdam erscheinende "Moscow Times" spekulierte mit Hinweis auf angeblich "unabhängige Nachwahlbefragungen", dass Putin tatsächlich nur rund 55 Prozent der Wählerstimmen erhalten habe. Bezogen auf die Gesamtzahl der Wahlberechtigten seien es etwa 44 Prozent gewesen. Experte Wassili Gatow analysierte, Putin und sein Clan hätten wohl "große Angst".
Der russische Politologe Konstantin Kalaschew bilanzierte die "Wahl" mit den Worten: "Warum sind die Russen heute stumm? Weil sie gestern ihre Stimme abgegeben haben."
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