Der russische Präsident mit dem Moskauer Bürgermeister
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Putin besucht Sergei Sobjanin

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"Im Durchschnitt Kohlrouladen": Putins Glaubwürdigkeit erodiert

"Im Durchschnitt Kohlrouladen": Putins Glaubwürdigkeit erodiert

Viele Russen fragen sich, ob Putin noch auf der Höhe der Zeit ist, seit sich herausstellte, dass er keine Ahnung von den Moskauer Normalverdienern hat: "In einem Land, in dem Lügen zum Zusammenhalt beitragen, sagt keine Behörde die Wahrheit."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Im Kreml gebe es wohl viele Fans des französischen Schriftstellers Jules Verne (1928 - 1905), vermutete einer der maßgeblichen russischen Blogger: "Die dortigen Vorhaben erinnern zunehmend an Science-Fiction, wo einerseits die feurigen Mienen der Optimisten auszumachen sind, andererseits die nüchterne Realität." Anlass für den Spott: Putin will bis 2030 die Produktion inländischer Passagierflugzeuge ankurbeln, den Alkoholkonsum pro Kopf senken und die Lebensqualität der Russen steigern. Das erinnere an die Fantastereien von Jules Vernes Roman "Reise zum Mittelpunkt der Erde" (1864): "Es genügt offenbar, staatlich anzuordnen, dass alles gut wird. Die Verantwortung für die Umsetzung liegt dann bei den Untergebenen."

Putin: "Komm schon, das muss doch mehr sein"

Der kremlkritische Kommentator Anatoli Nesmijan (122.000 Fans) höhnte, der Kreml und seine Statistik-Experten seien inzwischen zur "Organoleptik"-Methode übergegangen und beurteilten alles nur noch nach ihrem persönlichen Geschmack, wie etwa Weinkenner oder Feinschmecker: "Daran ist natürlich rein gar nichts Überraschendes. In einem Land, in dem Lügen zum geistigen Zusammenhalt beitragen, kann es grundsätzlich keine einzige Behörde geben, in der die Wahrheit gesagt wird. Das passiert einfach nicht." Nesmijan machte sich damit über die Behauptung des Kremls lustig, wonach das "Armutsniveau" in Russland deutlich gesunken sei. Gleichzeitig spielte er auf eine Anekdote an, mit der Putin seine eigene Glaubwürdigkeit erheblich erschütterte.

Bei einem Besuch des Moskauer Bürgermeisters Sergei Sobjanin hatte sich der russische Präsident nach dem Durchschnittsgehalt der Hauptstädter erkundigt. Sobjanin antwortete, das liege zwischen umgerechnet 1.400 und 1.600 Euro, während eine Stimme aus dem Publikum flüsterte, es seien 900 Euro. "Komm schon, das muss doch mehr sein", platzte es aus Putin spontan heraus. Dieses "ehrliche Erstaunen", wie staatsnahe Medien formulierten, hält Russlands Blogger seit Tagen in Atem. Gerüchteweise ordnete der Kreml an, Videos von dem Vorfall aus dem Netz zu entfernen.

Wie Hauptstadt-Journalisten recherchierten, liegt das "Mediangehalt" je nach Quelle sogar nur bei 470 und 650 Euro, das heißt, die Hälfte der abhängig beschäftigten Moskauer verdient weniger, die Hälfte mehr. Dazu Blogger Juri Dolguruki (72.000 Fans): "Ich esse Kohl, du isst Fleisch, im Durchschnitt essen wir Kohlrouladen. Dieser traurige Witz kommt mir im Zusammenhang mit der wieder einmal entbrannten Debatte um Gehälter in den Sinn."

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Blogger Dmitri Sewrjukow (54.000 Fans) verwies darauf, dass Durchschnittswerte immer zweifelhaft seien: "Sowohl den Behörden, als auch den Russen selbst ist völlig klar, dass der Durchschnitt durch die Addition der Geldbeutel derer entsteht, die sich über ihre zu klein geratenen Perlenketten grämen, und derer, die sich in der Fastenzeit mit Kohlsuppe begnügen müssen."

Politologe Ilja Graschtschenkow verwies auf deutsche Gehälter, mit denen sich Russlands Volkswirtschaft nicht messen könne. Außerdem seien Rubel-Beträge wegen der Kriegswirtschaft und der damit verbundenen Inflation sowieso kaum noch der Rede wert: "Unter Berücksichtigung der um dreißig Prozent gestiegenen Bauzinsen, sowie der Preise für importierte chinesische Autos, sind Ausgaben in Rubel nur noch sinnvoll, wenn es um Borschtsch [Rote-Beete-Suppe] geht. Und die Preise für Kartoffeln steigen noch schneller als der US-Dollar."

"Wir ernähren uns von Pasta"

Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" schrieben, Putin sei offenbar "eine Art Marsianer": "Er ist Auftritte gewohnt, bei denen man ihm Puppen vorsetzt, die plappern, was er will." Russland sei eben "ein Land voller Wunder und Blödsinn". Augenzeugen berichteten von Rentnerinnen, die nicht mal genug Bargeld für den Kauf von zwei Kartoffeln hätten: "Ich war von solchen Emotionen überwältigt und dermaßen von Tränen erfüllt, dass ich dieser Großmutter eine ganze Tüte Lebensmittel kaufte."

Ein weiterer Leser berichtete: "Mein Gehalt beträgt 22.000 Rubel [etwa 220 Euro]. Laut Putin gehöre ich zur Mittelklasse. Wir sitzen mit unserer Familie zusammen und ernähren uns von Pasta. Wir können uns seit zwei Jahren kein Fleisch mehr leisten. Ich habe noch nie so ärmlich gelebt wie jetzt, und alle meine Freunde in St. Petersburg leben genauso. Im Zombie-Apparat [dem Fernseher] behaupten sie, wie gut wir alle leben. Ich möchte diese Kiste nehmen und aus dem Fenster werfen."