Vorbei sind die Zeiten: In der Vergangenheit feierten russische Fernsehsender die berühmteste Sängerin des Landes zu ihren runden Geburtstagen wochenlang mit Sondersendungen, für Gala-Auftritte blätterten sie Höchstgagen hin. Jetzt, am 15. April, an dem die gebürtige Moskauerin Alla Pugatschowa 75 wird, soll es einen "inoffiziellen Boykott" geben, will die auflagenstarke "Moskowski Komsomolez" aus informierten Kreisen erfahren haben.
Zum Artikel: ""Sie haben Angst vor ihr": Muss Putin Rock-Sängerin fürchten?"
"Ausländischer Agent": Pugatschowa verheiratet mit Maxim Galkin
Der Grund liegt auf der Hand: Die Künstlerin ist mit Maxim Galkin verheiratet, einem russischen Comedian und Entertainer, der den Angriffskrieg auf die Ukraine ablehnt und deshalb als "ausländischer Agent" gebrandmarkt wurde. Sowohl Galkin als auch Pugatschowa leben wechselweise im Exil in Israel, Zypern und Lettland, wenngleich die Sängerin ihrem Heimatland umstrittene Kurzbesuche widmete, die bei Propagandisten auf ein höchst geteiltes Echo stießen. Pugatschowa hatte den Russen eine "Sklavenmentalität" vorgehalten.
Alles sei irgendwie "sehr vertraulich" rund um diesen Geburtstag, spottete Exil-Blogger Anatoli Nesmijan: Gefeiert werde offiziell zwar nicht, aber jeder Russe wisse Bescheid. Und wenn schon Breschnew einst neben der Sängerin als "kleines Licht" bezeichnet worden sei, treffe das auf die aktuellen Kreml-Machthaber umso mehr zu.
"Putin kann ihr nicht verzeihen"
Der Publizist Sergej Nikolajewitsch bemerkte in einer Laudatio für die Exil-Zeitung "Novaya Gazeta Europe", Pugatschowa orientiere sich seiner Einschätzung nach am Leitbild der "Öffentlichen Einsamkeit" des berühmten russischen Theatermachers Konstantin Stanislawski (1863 - 1938). Sie ziehe sich privat gern zurück und beteilige sich ungern an Tischgesprächen: "Die Tatsache, dass sie mit ihrer Präsenz auf Fernsehbildschirmen und Bühnen Millionen von Menschen von jahrhundertealtem Druck und unterwürfiger Angst befreien konnte, dass sie mit ihren Liedern und ihrer Stimme das scheinbar ewige Eis der sowjetischen Ideologie zum Schmelzen bringen konnte – das steht definitiv außer Zweifel. Putin kann ihr das immer noch nicht verzeihen. Er ist auch fast so alt wie sie!"
"Entfernte sich vom sowjetischen Mainstream"
Der Kreml konnte sich bisher nicht dazu durchringen, Pugatschowa selbst ebenfalls zur "Agentin" und somit zur Regimegegnerin zu erklären. Putin würde damit riskieren, seine treuesten, nämlich älteren Fans gegen sich aufzubringen, denn die Sängerin ist insbesondere bei denen populär, die in den siebziger und achtziger Jahren aufwuchsen.
Damals trat Pugatschowa an der Seite von Udo Lindenberg ("Lieder statt Briefe"), Joe Dassin und ABBA auf und nahm 1997 für Russland am Eurovision Song Contest teil ("Primadonna"). Die Sängerin leistete sich angesichts ihrer internationalen Karriere sogar die herablassende Ironie, die russischen Behörden dazu aufzurufen, sie als "Agentin" einzustufen, was von den Sicherheitsorganen (vorerst) geflissentlich überhört wurde.
Blogger: Pugatschowa auszugrenzen wäre riskant
So oder so sei es für den Kreml mit einer "ernsten Gefahr" verbunden, die Rock-Legende auszugrenzen, mutmaßten einflussreiche Blogger, denn Pugatschowa habe bisher nichts geäußert, was eindeutig als umstürzlerisch zu verstehen sei. Gleichzeitig drohe eine Destabilisierung der öffentlichen Meinung, wenn ein wesentlicher Anteil der Senioren verstört werde, nämlich die eingefleischten Pugatschowa-Fans. Kolumnist Andrej Kolesnikow polemisierte sogar, Putin werde sich selbst zur Fußnote "in der Ära Pugatschowa" verzwergen, wenn er die Künstlerin ernsthaft schikaniere.
Nachgeborene würden niemals verstehen, welche Bedeutung Pugatschowa einst gehabt habe, argumentiert Dmitri Trawin von der Europäischen Universität in St. Petersburg in seinem Blog: Sie sei "kein musikalisches, sondern ein gesellschaftliches Phänomen. Das hat natürlich auch eine musikalische Seite, aber was die betrifft, kann man geteilter Meinung sein: Es kann begeisterte Fans und ebenso entschlossene Gegner geben. Aber als soziales Phänomen ist Pugatschowa unumstritten, da sie sich völlig vom sowjetischen kulturellen Mainstream entfernte und bewies, wie Individualität in einer Gesellschaft aussehen konnte, in der versucht wurde, jede Art von Individualität unmöglich zu machen."
Kolumnist: "Wir lieben die Vergangenheit"
Kolumnist Dmitri Drise vom liberalen Wirtschaftsblatt "Kommersant" schrieb: "Alla Pugatschowa hat längst ihren Platz in der russischen Geschichte eingenommen; es ist unter gar keinen Umständen möglich, sie von dort zu verdrängen. Ja, man kann versuchen, diese Tatsache vergessen zu machen und zu behaupten, dass das alles lange her sei und wir jetzt andere Bühnenstars haben. Aber warum zeigen sie dann jedes Jahr zu Neujahr [das aus Sowjetzeiten stammende TV-Format] 'Blaues Licht' im Fernsehen, das uns in die sehr geruhsame Zeit der Breschnew-Stagnation zurückversetzt?"
Nostalgische Gefühle dominierten nach wie vor die russische Befindlichkeit, so Drise, und Pugatschowa sei damit eng verbunden: "Wir lieben die Vergangenheit immer noch, und es scheint, als würden wir auf jede erdenkliche Weise versuchen, dorthin zurückzukehren. Bis zu einem gewissen Grad klappt das sogar. Zahlreichen Umfragen zufolge hätten viele russische Bürger (insbesondere die ältere Generation) nichts dagegen, wieder dort zu sein. Sie lebten unbeschwert vor sich hin, hörten [Pugatschowas Hit] 'Harlequin' [von 1979] und andere populäre Lieder."
"Durst nach Liebe" - Pugatschowa sang über Gefühle
Der regimekritische russische Filmproduzent Alexander Rodnjanski verwies in einem Essay darauf, dass es in Russland "nur noch wenige moralische Autoritäten" gebe, darunter noch weniger "unbestreitbare". Pugatschowa gehöre zweifellos dazu und habe deutlich gemacht, dass sie mit den derzeitigen Verfolgungen und Repressionen nicht einverstanden sei.
"In Zeiten der völligen Entpersonalisierung war sie die erste auf der sowjetischen Bühne, die über sich und ihre Gefühle sang", so der Filmemacher: "Sie war die erste Autorin (mit einem großen A) auf der Bühne. Sie schrieb und sang über Hoffnung, Zweifel, Sehnsucht, Enttäuschung, den Durst nach Liebe und die Liebe selbst. Sie erwies sich als die menschlichste und 'heimischste' Stimme für Hunderte Millionen Menschen, die sich sofort mit ihr verbunden fühlten. Und für sie war sie im Gegensatz zu unzähligen Fernsehpersönlichkeiten – Sängern, Schauspielern oder Politikern – eine 'ernste' Sache. Wirklich."
Star-Bloggerin und TV-Promi Xenia Sobtschak lobte Pugatschowa in den Himmel und stellte ungeachtet der "Boykott"-Spekulationen ein Huldigungsvideo ins Netz: "Sie ist unsere Alla, eine freie, ungebrochene Frau, die nicht beiseite geschoben werden kann. Meiner Meinung nach ist es gerade jetzt, in dieser schwierigen Zeit, sehr wichtig, dieser ohne Übertreibung großartigen Sängerin öffentlich zu gratulieren. Alla Borisowna, wir lieben dich sehr."
Kremlnahe Medien: Keine Party wegen Nahost-Krise – "Katastrophe"
Zum Ehrentag veröffentlichte Pugatschowa einen älteren Song mit dem Titel "Ich weine", wobei russische Medien betonten, das sei rein privat zu verstehen, es handle sich um ein Liebeslied: "Es gibt keinerlei Hinweise auf eine politische Bedeutung." In Leserforen wurde die Sängerin dafür gelobt, dass sie dem Druck der Propaganda nicht nachgegeben habe, andere schmähten sie als "Mumie", was die Fans nicht ruhen ließ: "An alle gehässigen Kritiker: Wenn Alla einfach nur auf die Bühne eines großen Konzertsaals geht und sich auf einen Stuhl setzt, werden die Tickets für 10.000 Rubel [umgerechnet rund 100 Euro] nicht mal für fünf Minuten im Vorverkauf sein! Und was habt ihr geleistet?"
Kremlnahe Medien beeilten sich, Pugatschowas Schicksal als ungemein freudlos darzustellen: Wegen der Krise im Nahen Osten habe sie auf eine eigentlich geplante Geburtstagsfeier mit 160 Gästen verzichten müssen, der Tag sei zu einer "echten Katastrophe" geworden. Freunde hätten nicht anreisen können. Russische Boulevardmedien beklagten sich hämisch über eine "Mischung aus Keuchen und Schluchzen" auf den neueren Aufnahmen und unterstellten Pugatschowa, ein Werkzeug ihres regimekritischen Mannes geworden zu sein.
"Aus einem alten sowjetischen Film"
Im Mai vergangenen Jahres hatte Kremlsprecher Dmitri Peskow Schlagzeilen gemacht, weil er Pugatschowa am Rande einer Beerdigung demonstrativ die Hand küsste, was Propagandisten empörte: "Wie kann man die Hand einer Vaterlandsverräterin küssen. So eine Schande!"
Der oben erwähnte russische Journalist Nikolajewitsch meinte zur bemerkenswerten Begegnung von Peskow und Pugatschowa launig: "Von außen sah es aus wie ein Treffen zwischen Vertretern zweier Geheimdienste verfeindeter Länder aus einem alten sowjetischen Film. Der Krieg hat frühere Freundschaften und Zuneigungen völlig ausgelöscht, Verbindungen und Bekanntschaften gekappt. Und niemand weiß, ob sie jemals wiederhergestellt werden, nachdem sie den gegenwärtigen Abgrund überwunden haben."
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