Angesichts immer häufiger auftretender Hitzewellen wird die Kühlung von Häusern und Städten zusehends wichtiger. Was sich aber erst langsam im Bewusstsein von Städteplanern und Architekten durchsetzt, sind kleine Maßnahmen, die dazu beitragen können unser im wahrsten Sinne aufgeheiztes Leben herunterzukühlen. Und die außerdem von Nutzen sind, um Extrem-Wetterereignissen wie Hitzewellen, Trockenheit und Starkregen widerstehen zu können – und die das Artensterben aufhalten und Flora sowie Fauna den Raum geben, den sie brauchen.
Die große Angst vor grünen Fassaden
Zwei benachbarte Mietwohnungshäuser in München Sendling, Mauer an Mauer, stehen für zwei Welten: die Welt des Grüns und des Nicht-Grüns in der Stadt. Auf der einen Seite rankt sich wild der Wein am gesamten Haus empor, auf der anderen Seite hat sich der Besitzer entschieden, jedwedes Grün auszumerzen – vermutlich aus Sorge, die Pflanzen könnten Ungeziefer anlocken und den Putz beschädigen, mit allen Folgen, die das nach sich zieht. Vom Boden bis zum Dach verläuft eine Metallsperre an der Grenze der beiden Häuser, 30 cm tief, um zu verhindern, dass der Wein sich von dem einen Haus auf das andere verbreitet. Zwei Positionen: 'Wir freuen uns über Grün in der Stadt und brauchen es", und: "Wir haben Angst vor Grün und rotten es aus."
Im Sommer kühlt das Fassadengrün, im Winter wärmt es
Bislang spielen grüne Fassaden in den Städten keine große Rolle. "Da sind wir noch ganz am Start", sagt Natalie Essig, Professorin für Baukonstruktion und Bauklimatik an der Hochschule in München sowie im Vorstand der Bayerischen Architektenkammer. Sie hat mehrere Bücher über "Green Building" geschrieben. Seit einiger Zeit begleitet sie den Entwicklungsprozess des nachhaltigen Bauens in Deutschland und wurde in den Expertenkreis Zukunft Bau des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat berufen. Dass bisher so wenige Hausbesitzer und Eigentümergemeinschaften die Vorteile des Fassadengrüns nutzen, leuchtet ihr nicht ein: "Ich bin ein absoluter Fan von Fassadenbegrünungen – aus ökologischen Gründen und aus Gründen der Nachhaltigkeit", sagt Natalie Essig. "Wir schaffen Grün in die Stadt. Wir schaffen Fassaden, die die Luft filtern, die Feuchtigkeit binden. Und – was im Moment bei Energieeffizienzberechnungen noch gar nicht bedacht wird – wir schaffen ein gutes Klima, fast im Sinne einer Isolierung. Im Sommer kühlt eine begrünte Fassade das Haus und im Winter wärmt sie es."
Grün ist kostbar, muss aber nicht viel kosten
Oft verhindern bei geplanten Fassadenbegrünungen die angeblich hohen Kosten die Ausführung, bleiben die Hauswände dann kahl. Als Beleg für das teure Unterfangen werden gerne die vertikalen Gärten des französischen Künstlers und Botanikers Patrick Blanc angeführt, der durch seine Pflanzenwände in Paris, seine murs végétaux, bekannt wurde – senkrechte Beete, auf denen er ausgesuchte Pflanzen wachsen lässt, die dem jeweiligen lokalen Klima angepasst sind.
Aufwändig, aber wegweisend: Patrick Blanc
Die Designerin Andrée Putman beauftragte Patrick Blanc 2001, den Innenhof eines Pariser Fünf-Sterne-Hotels zu begrünen. Berühmtheit erlangte er dann, als er 2004 die grünen Wände des Verwaltungsgebäudes neben dem ethnologischen Museum Quai Branly von Jean Nouvel erschuf. Sein Verfahren ist tatsächlich aufwändig: Zuerst wird ein Leichtmetallgerüst an einer Hauswand angebracht, darauf befestigen Arbeiter dann PVC-Hartschaumplatten, die an der Oberfläche mit verschiedenen Filzlagen aus recycelten Altwäsche-Acrylfasern beschichtet sind. Sie halten Wasser zurück, nehmen organische Moleküle aus der Luft auf und funktionieren als Schmutzfilter in der Stadt.
An den höchsten Punkten sind Bewässerungsanlagen angebracht, die – je nach Pflanzenart und Feuchtigkeitsbedarf – mehrmals täglich Wasser an der Fassade herunterrieseln lassen. Für Natalie Essig sind diese Wände ein Segen, doch es geht auch einfacher. "Also, bezüglich der Kosten muss man unterscheiden – es gibt einfache Systeme, Rankpflanzen, die nach oben wachsen, oder Körbe, die in die Fassaden gestellt werden und bewässert werden müssen." Nicht die Baukosten, sondern der Aufwand für die Pflege der Pflanzen seien das Problem, deswegen sei es entscheidend, dass man ganz gezielt auswählt, welche Gebäude man begrünt und mit welchen Systemen.
Utopische Architektur im Einklang mit der Natur
In Mailand im Stadtteil Porta Nuova steht der "Bosco Verticale", auf Deutsch "Der senkrechte Wald", den der Architekt Stefano Boeri Anfang der Zweitausender Jahre entworfen hat und der vor rund zehn Jahren fertiggestellt wurde. Zwei an den Fassaden bewaldete Hochhaustürme stehen unweit des Pirelli-Hochhauses mitten in Mailand. In Zeiten des Klimawandels erscheinen sie vorbildlicher denn je.
Die Bilder des vertikalen Waldes gingen erstmals 2014 um die Welt, als die begrünten Zwillingstürme mit dem Internationalen Hochhauspreis ausgezeichnet wurden. Bis heute wirkt es, als würden sie aus einem Science-Fiction-Film stammen, der eine Vision des Lebens im nächsten Jahrhundert ausmalt: utopische Architektur im Einklang mit der Natur. Wohnen wie im Wald – und das in einer hochverdichteten Stadt.
Senkrechter Wald mit 900 Bäumen
900 Bäume hat Stefano Boeri an die Fassaden der beiden Zwillingstürme setzen lassen, der eine 110 Meter, der andere 80 Meter hoch. Beide werden von Bäumen bewachsen, die bei ihrer Pflanzung bereits drei bis neun Meter maßen. Dazu kamen Stauden und Büsche. Alle sitzen in 130 cm tiefen Betonwannen, deren Böden mit Gittern durchsetzt sind, damit die Pflanzenwurzeln dort zusätzlichen Halt finden und die Bäume dem Wind und sogar Stürmen standhalten können. Es seien ganz unterschiedliche Bäume, erklärt Architekt Stefano Boeri, verschieden in Höhe und Umfang. Außerdem habe man diverse Feuchtigkeitsbedürfnisse und unterschiedliche Sonnenlagen berücksichtigen müssen. Über ein Jahr sei er zusammen mit der Botanikerin Laura Gatti mit der Bepflanzung beschäftigt gewesen, habe auch logistische Probleme der Bewässerung und der Pflege zu lösen gehabt.
"Edelforst für Besserverdiener"?
Der Bosco Verticale wurde nicht nur gefeiert, sondern auch heftig kritisiert – etwa als "Edelforst für Besserverdiener", weil er in Mailand ausschließlich von sehr vermögenden Menschen bewohnt wird: Die Kosten für den Unterhalt des vertikalen Waldes machen pro Wohneinheit angeblich mehr als 1.000 Euro monatlich aus. Zwei Gärtner sind festangestellt und seilen sich vom Dach aus immer wieder zu den bloß so erreichbaren Pflanzenbalkonen ab.
Trotzdem hat der Bosco Verticale für Natalie Essig bis heute eine wichtige Vorbildfunktion: "Auch eine grüne Architektur braucht ein Marketing. Es ist die Frage, ob wir unbedingt Hochhäuser begrünen müssen. Da müssen jetzt auch Architekten dazulernen."
Das Umdenken hat begonnen
Es geht um das Mikroklima von ganzen Stadtvierteln, um Lebensräume für Tiere und Insekten – und das in dicht bewohnten Gebieten. Für das Erreichen der globalen Klimaziele ist die Begrünung von Gebäuden wichtiger denn je. Vor allem bei Neubauten sollte ein Gründach samt Fassadenbegrünung zur Pflicht oder zumindest besonders gefördert werden. Immerhin: Ein Umdenken hat begonnen.
In Augsburg wird gerade die neue Polizeiinspektion West mit einem umfassenden Grünkonzept gebaut, in München-Bogenhausen ist die Genehmigung für das Arabella 26 erteilt worden. Architektin Aika Schluchtmann hat einen geschwungenen Wohnturm mit 52 Meter Höhe und über 2.000 m² begrünter Fassade entworfen. Von Geschoss zu Geschoss ranken sich 1.200 Kletterpflanzen und bilden einen vertikalen Garten. Das ist sozialverträglicher angelegt als der Bosco Verticale in Mailand und wird dazu sehr viel günstiger zu bewirtschaften sein.
Klimaresilienz: neue Standards beim Bauen
Das Regensburger Büro Dömges Architekten, mit über 80 Mitarbeitenden eines der größten in Bayern, arbeitet schon seit einiger Zeit an vielen Projekten mit grünen Fassaden und grünen Dächern. Die Aufmerksamkeit für Ökologie, Nachhaltigkeit und Maßnahmen gegen den Klimawandel ist groß. In den letzten zwei Jahren hätten sich die Vorgaben auch auf der Auftraggeberseite zunehmend verändert, sagt Vorstand und Architekt Thomas Eckert. Bei allen städtebaulichen Projekten, die jetzt anstehen, sei immer Klimaresilienz, d.h. Anpassung an den Klimawandel, eines der großen Themen. In Ausschreibungen für Wettbewerbe wird von Architekten inzwischen vieles gefordert, was längst Standard sein sollte: "weniger versiegelte Flächen, die sich aufheizen können, Wassermanagement, also Schwammstadt, Wasserhaltung, Bäume, Verschattung, auf den Dächern Fotovoltaik und Grün und so wenig aufheizbare Flächen wie möglich."
In Mühldorf baut Dömges Architekten gerade das Bayerische Landesamt für ländliche Entwicklung – mit Gründächern und grünen Fassaden. Ganz simpel. Ohne den allzu großen Aufwand wie beim Bosco Verticale, bei den Fassenbegrünungen des Franzosen Patric Blanc oder beim jüngsten Bau von ingenhoven architects in Stuttgart, der Calwer Passage mit Dachwald und 2.000 Pflanzgefäßen an der Fassade.
Stadtplanung baut auf Temperaturmessungen und Hitzesimulationen
Immer öfter werden bei öffentlichen Aufträgen für Stadtplanung und Quartiersentwicklungen vorab Temperaturstudien per Drohne und Hitzesimulationen verlangt: Wo wird es besonders heiß in der Stadt, wo gibt es bereits kühlere Orte? Und so langsam wird es zur Pflicht, bei Wettbewerben wärmereduzierende Maßnahmen nachzuweisen. Wasser, Grün und Entsiegelung sind dabei die wirksamsten und zugleich günstigsten Mittel. Das weiß man schon lange, doch jetzt werden all diese Dinge auch mit Nachdruck verlangt.
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