Boris Lurie, Untitled, 1946 (Ausschnitt)
Bildrechte: Boris Lurie, Untitled, 1946

Boris Lurie, Untitled, 1946 (Ausschnitt)

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Kunst in Alarmbereitschaft: Boris Lurie im Neuen Museum Nürnberg

In seiner Kunst hat er Krieg und Holocaust verarbeitet – und gleichzeitig vor neuer Unmenschlichkeit gewarnt. Jetzt werden frühe Arbeiten von Boris Lurie im Neuen Museum Nürnberg in Dialog gebracht mit zeitgenössischer Kunst aus Osteuropa.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Die Welt am Morgen am .

Bevor man Bilder sieht, hört man Alarmsirenen, erzeugt durch Frauenstimmen. Eine Klanginstallation der polnischen Künstlerin Edka Jarząb im Neuen Museum Nürnberg. Ihr geht es dabei um die Frauenrechte in Polen und deren Einschränkung unter der rechtsnationalen PiS-Regierung, etwa das verschärfte Abtreibungsrecht. Inzwischen ist die PiS-Partei nicht mehr an der Regierung. Für die Frauen habe sich trotzdem noch nichts geändert, berichtet Ausstellungskuratorin Paulina Olszewska, die selbst aus Polen stammt. "Die Frauen in Polen haben weiter viele Probleme. Sie sind alleingelassen."

Auch Krieg in der Ukraine ist Thema

Dennoch: Hört man den Alarm, denkt man unweigerlich an die Ukraine und den Kriegszustand, in dem sich das Land seit dem vollumfänglichen Angriff Russlands befindet. Der Künstlerin sei bewusst, dass sich der Kontext der Arbeit mit der Zeit verändert hat, sagt Olszewska. "Sie unterstützt auch die ukrainische Künstler-Community in Polen."

Der Krieg in Polens Nachbarland ist Thema des ukrainischen Künstlers Sergiy Petlyuk. Er zeigt seine Videoinstallation namens "Scherben der Realität", ein an die Wand geworfenes Bild von großen, zerbrochenen Glasscherben. "In diesem Projekt", erklärt Petlyuk, "geht es um Verlust, Tod, Zerstörung und Verzweiflung, die unser bisheriges Leben erschüttert haben."

Kunst aus Osteuropa zu lang ignoriert

Die Ausstellung in Nürnberg zeige die politische Dimension der Kunst aus Osteuropa, so der stellvertretende Direktor des Neuen Museums, Kunsthistoriker Thomas Heyden. "Ich glaube, da gibt es viel Nachholbedarf. Wir haben viel zu lange, viel zu intensiv nach Großbritannien, nach Frankreich, in die USA, in den Westen geblickt und haben dabei vergessen, was im Osten alles an spannender, wichtiger Kunst passiert."

Dabei stehen die im Neuen Museum gezeigten Werke in Beziehung zu einem im Westen sehr wohl bekannten Künstler: Boris Lurie, der 1924 in Leningrad geboren wurde und 2008 in den USA starb. Werke Luris sind neben den Werken der zehn Künstlerinnen und Künstler aus Belarus, Polen und der Ukraine zu sehen.

Verarbeitung von Krieg und Holocaust

Die Ausstellung konzentriere sich auf die frühen Werke von Boris Lurie, so Thomas Heyden, auf Werke aus der zweiten Hälfte der 40er und der ersten Hälfte der 50er-Jahre. "Das ist die Zeit, in der er seine schrecklichen Erfahrungen im Krieg, im Holocaust verarbeitet und versucht zu bewältigen. Das sind Bilder, die einen sehr berühren. Bilder, die deutlich machen, wie sehr hier ein Mensch um Bewältigung der schrecklichen Dinge ringt, die er und seine Familie erfahren mussten. Er hat einen Großteil seiner Familie im Holocaust verloren."

Testimony (Zeugnis) heißt die Ausstellung im Neuen Museum anlässlich des 100. Geburtstages des einzigartigen Künstlers und Mitbegründers der No!art-Bewegung. Das Neue Museum hat dafür mit der New Yorker Boris Lurie Stiftung zusammengearbeitet, die dessen Werke zunehmend in einen Kontext mit zeitgenössischer Kunst stellen will. Dabei sind in der Nürnberger Ausstellung keine Kriegsszenarien zu sehen, keine Panzer oder Waffen, vielmehr abstrakt-expressionistische Werke, Installationen und Andeutungen.

"Das ist keine rein politisch-gesellschaftlich-historisch argumentierende Ausstellung, sondern eine, die sich auch ästhetischen Fragen widmet", so Thomas Heyden, "zum Beispiel der Frage: Kann man über Unrecht und über Gewalt und über Usurpation auch in abstrakten Formen sprechen? Oder braucht man dafür die figurative, die gegenständliche Kunst?"

Kunst als Warnung

Kuratorin Paulina Olszewska will erreichen, dass man erst auf den zweiten Blick sieht, welches Werk von Boris Lurie stammt und welches aus der Gegenwart. "Es sind die gleichen Probleme, mit denen wir jetzt in Europa kämpfen müssen", sagt Olszewska. "Sein ganzes Leben lang hat er versucht, die Botschaft zu kommunizieren, dass das Schlimmste, was passierte, also der Zweite Weltkrieg, schon passiert sei, und wir als Menschen alles tun müssen, damit die Geschichte sich nicht wiederholt."

Die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart: In der Ausstellung "Testimony" gelingt das mit den Werken des vor 16 Jahren verstorbenen Boris Lurie und denen der zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler aus Osteuropa eindrucksvoll. Denn die befinden sich im Alarmzustand. Ein Alarm, der bis zum 17. November im Neuen Museum Nürnberg in den Werken zu hören und zu sehen ist.

Die Ausstellung "Testimony. Boris Lurie & zeitgenössische Kunst aus Osteuropa" ist noch bis 17. November im Neuen Museum Nürnberg zu sehen.

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