Ein Mann in Kampfmontur am Artilleriegeschütz
Bildrechte: Dmitri Jagodkin/Picture Alliance

Russischer Soldat im Schützengraben

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"Mai war blutigster Monat": Wie viele Soldaten verliert Putin?

Von jeher wird mit angeblichen Gefallenen-Statistiken von allen Kriegsparteien Propaganda gemacht. Jetzt behaupten westliche Geheimdienste, Russlands Armee habe besonders viele Opfer zu beklagen. Auch Kreml-Fans deuten vorsichtig hohe Verluste an.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Ist der Mai wirklich der "blutigste Monat" für Putins Armee gewesen, wie es russische Exil-Medien unter Berufung auf den britischen Geheimdienst melden [externer Link]? Täglich sollen rund 1.200 russische Soldaten getötet oder verwundet worden sein. Insgesamt habe Russland im Mai zwischen 31.000 und 37.000 Mann verloren. So viele Opfer könnten nicht auf die Schnelle ersetzt werden, hieß es von US-Fachleuten. Putin lasse monatlich zwischen 25.000 und 30.000 neue Soldaten anheuern.

All diese Zahlen sind, wie in Kriegszeiten üblich, nicht als statistische Angaben zu verstehen, sondern als Munition im Kampf um die Deutungshoheit. So tadelte der inzwischen nach Sibirien abgeschobene frühere Generalsekretär der Putin-Partei "Einiges Russland", Andrei Turtschak, zu Beginn des Krieges Kremlsprecher Dmitri Peskow, weil der die russischen Verluste damals als "bedeutend" und eine "riesige Tragödie" bezeichnet hatte. Das sei schlimmer als ein Raketeneinschlag, so Turtschak, damit werde "Zwietracht" gesät.

Die wirklichen Verluste bleiben derweil im Dunkeln. Neuerdings hat sich der russische Wahlstatistikforscher Dmitri Kobak die Mühe gemacht, in offiziellen Unterlagen zu forschen und kam zum Ergebnis, dass es in den ersten beiden Kriegsjahren eine "Übersterblichkeit" von rund 64.000 Todesfällen unter jungen Männern gegeben habe [externer Link].

Putin: "Normalerweise spricht keiner darüber"

Wie auch immer, in zwei Schlachten soll der hohe Blutzoll aus russischer Sicht zu Geländegewinnen geführt haben: In Bachmut, wo vor allem Söldner der Privatarmee Wagner im Einsatz waren, und in Awdijiwka. Doch beim jüngsten Angriff in der Nähe der ukrainischen Großstadt Charkiw habe die Taktik eines Vorstoßes ohne Rücksicht auf Verluste versagt. Minen, Streumunition und vor allem Drohnen hätten die Russen gestoppt, zumal viele Infanteristen nicht in gepanzerten Fahrzeugen vorgeschickt würden, an denen inzwischen ein Mangel herrsche, sondern in offenen Buggys, auf Motorrädern oder in Geländefahrzeugen aus ziviler Produktion.

Putin war am 5. Juni auf einer Pressekonferenz gefragt worden, wie hoch die Verluste der russischen Armee seien. Seine Antwort [externer Link]: "Normalerweise spricht keiner darüber. Und wenn doch, dann werden die echten Zahlen in der Regel verzerrt." Dabei beließ er es allerdings nicht: "Ich kann Ihnen voller Zuversicht sagen, dass unsere Verluste, insbesondere wenn es sich um die leider unwiederbringlichen Verluste handelt, natürlich um ein Vielfaches geringer sind als auf ukrainischer Seite." Das Verhältnis betrage fünf zu eins. Weil Putin gleichzeitig behauptete, die Ukraine verliere monatlich rund 50.000 Soldaten durch Tod oder Verwundung, errechneten Blogger umgehend eine Verlustquote von 10.000 Soldaten auf russischer Seite.

"Wo ist die Ernte?"

Diese völlig unbelegten Zahlen sind als Kreml-Propaganda zu verstehen. Sogar der kremlnahe Politologe Sergei Markow zweifelte leise an Putins Zahlen. So müsse ja auch die Zahl der Soldaten, die auf beiden Seiten im Einsatz seien, miteinander verglichen werden, und wenn Russland fünf mal weniger Truppen aufbieten könne als die Ukraine, seien die Verluste im Verhältnis möglicherweise sogar gleich hoch [externer Link].

Ähnlich skeptisch äußerte sich ein Blogger mit 70.000 Fans über den Widerstreit der Meinungen über die Opferzahlen: "Heutzutage hat sich ein schädlicher Trend entwickelt, den wir deutlich an manchen Telegram-Kanälen ablesen können. Als militärischer Erfolg gilt die Zerstörung von feindlichem Personal, Ausrüstung und Lagerhäusern. Obwohl jeder, der auch nur die geringste Ahnung von militärischen Angelegenheiten hat, weiß, dass das alles nichts besagt. Im Krieg spielen andere Kategorien eine Rolle. Der Erfolg sollte allein von der Lösung des jeweiligen Problems abhängen."

Was er damit meint, illustrierte der Blogger mit einem Gleichnis: "Nehmen Sie ein Weizenfeld. Die Ernte muss vor Nagetieren geschützt werden. Unsere Generäle berichten über die Zahl der vernichteten Mäuse. Sie sollten aber mitteilen, wie viel Getreide sie gerettet haben. Gut gemacht, natürlich, dass sie tausend Mäuseleichen vorweisen können. Aber wo ist die Ernte?"

Lob für defensive Kriegshelden

Das amerikanische Institute for the Study of War (ISW) geht aktuell davon aus, dass Putin für ein Gleichgewicht in der Armee zwischen Ab- und Zugängen sorgt [externer Link]. Zwar würden rund 30.000 Soldaten monatlich rekrutiert, aber bei weitem nicht alle erreichten die Front, teils, weil Ausrüstung fehle, teils, weil nicht genügend Zeit für die Ausbildung bleibe. Der russische Blogger Roman Aljechin (132.000 Fans) ist überzeugt, dass Putins Armee aus personellen Gründen nicht mehr in der Lage ist, große Angriffe durchzuführen: "Fast alle Kommandeure und Soldaten, mit denen ich gesprochen habe, glauben, dass eine ernsthafte Offensivoperation grundsätzlich unmöglich ist. Ja, man kann es versuchen, wenn man ein bis zwei Millionen Menschen mobilisiert (ist das Land dafür bereit? Ist die Wirtschaft dafür bereit?), aber die Verluste werden gigantisch sein."

Leute wie Aljechin loben in höchsten Tönen den berühmten russischen Feldherrn Alexander Suworow (1730 - 1784), dem nachgesagt wird, seine militärischen Erfolge mit vergleichsweise geringen Opfern erzielt zu haben. Noch defensiver und ressourcenschonender ging Suworows Schüler Feldmarschall Michail Kutusow (1745 - 1813) im Kampf gegen Napoleon vor, was in Leo Tolstois "Krieg und Frieden" eindrucksvoll nachzulesen ist.

"Große Verluste und großer Aufwand"

Natürlich bemühen sich russische und ukrainische Militärblogger nach Kräften, die Verluste der Gegenseite zu übertreiben und die eigenen zu beschönigen. Je mehr Follower ein Kanal hat, desto vorsichtiger wird er mit kritischen Bemerkungen. Doch manchmal trauen sich sogar Putins Propagandisten, Schwierigkeiten einzuräumen. So war jüngst bei einem der Netz-Kommentatoren zu lesen, die offiziellen Meldungen über "Front-Durchbrüche" seien keineswegs als "tiefes Eindringen" in die ukrainischen Stellungen zu verstehen. Vielmehr zögen sich die ukrainischen Soldaten flexibel zurück und griffen dann wieder an [externer Link]: "Das ist mit großen Verlusten und großem Aufwand verbunden. Nach zwei oder drei Angriffen verlieren unsere Einheiten die Fähigkeit, Angriffsoperationen durchzuführen und müssen ihre Kampfkraft wiederherstellen."

Cholera-Ausbruch an der Südfront

Nicht alle Soldaten werden Opfer von Kampfhandlungen. Im südlichen Frontabschnitt soll die Cholera ausgebrochen sein: "Für unsere Einheiten ist es schwierig, auf den Inseln [im Mündungsdelta des Dnjepr] voranzukommen: Unter den Bedingungen des Dauer-Einsatzes feindlicher Drohnen ist es schwer, ausreichend Trinkwasser bereitzustellen, das Personal auszutauschen und Verwundete zu evakuieren. In der heißen Jahreszeit infizieren sich Soldaten mit Infektionskrankheiten, wenn sie Wasser aus Stauseen und Brunnen trinken", so die "Zwei Majore", die einen der wichtigsten Telegram-Kanäle betreiben (727.000 Fans) [externer Link].

Ein Augenzeuge berichtete: "Wenn man auf den Inseln im Sommer in den Überschwemmungsgebieten arbeitet, trinkt man zwei- bis dreimal mehr Wasser als sonst: Es ist wie im Dschungel, und es gibt dort keine Möglichkeit, sauberes Wasser aufzukochen, weil die Gräben weit vom Flussbett entfernt sind. Sie müssen es aus verfallenen Brunnen schöpfen und durch Textilgewebe filtern."

"Drohnen terrorisieren uns rund um die Uhr"

Dort ist auch von "sehr schweren Verlusten" in Krynki die Rede, einem kleinen Brückenkopf der Ukraine auf dem linken Ufer des Dnjepr, das ansonsten von russischen Truppen gehalten wird. Allgemein wird von russischen Militärbloggern beklagt, dass die ukrainischen Kampfdrohnen schier allgegenwärtig seien und ständig modernisiert würden, so dass auch die elektronischen Abwehrmittel unablässig erneuert werden müssten: "Kamikaze-Drohnen auf der Seite des Feindes haben ihr Arbeitstempo erhöht und terrorisieren rund um die Uhr unsere vorderen Stellungen und das gesamte Frontgebiet. Jetzt begannen sie Tag und Nacht auch weit im Hinterland zu fliegen, was darauf hindeutet, dass es dem Feind nicht an Drohnen mangelt. Aber wir haben einen großen Mangel an elektronischer Kriegsführung."

Exil-Politologe Abbas Galljamow schrieb mit bitterem Sarkasmus: "Die alten Römer waren hellsichtige Menschen und sagten sich: 'Tausende mussten für die Lorbeeren des Cäsar sterben.' Seitdem sind zweitausend Jahre vergangen, aber in Russland lässt man sich immer noch von dieser Logik leiten. So viel zu den traditionellen Werten."

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