Straßenszene bei den Kämpfen in Dagestan
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Einsatz in Dagestan: Russische Sicherheitskräfte

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"Im rosaroten Nebel": Islamisten setzen Putin unter Druck

Bei blutigen Terroranschlägen in der russischen Provinz Dagestan kamen zahlreiche Polizisten zu Tode. Prominente örtliche Familienclans sind in den Vorfall verwickelt. Der Kreml sieht sich massiver Kritik ausgesetzt: "Alles fliegt auseinander."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

So regierungskritisch gibt sich Dmitri Rogosin, der frühere Chef der russischen Weltraumbehörde und jetzige Front-Aktivist selten. Nach blutigen Anschlägen mutmaßlich islamistischer Terroristen in der nordkaukasischen Provinz Dagestan warnte Rogosin vor allzu bequemen propagandistischen Schuldzuweisungen: "Ich glaube, wenn wir jeden Terroranschlag, der mit nationaler und religiöser Intoleranz, Hass und Russophobie einhergeht, den Machenschaften der Ukraine und der NATO zuschreiben, dann wird uns dieser rosarote Nebel noch große Probleme bereiten. Wir sehen den Splitter im Auge des Gegners, aber nicht den Balken in unseren."

Politologe Sergei Markow: "Örtliche Elite infiziert"

In russischen Diskussionsforen mehren sich die Zweifel an Putins Sicherheitsbehörden und die Kritik an der Kaukasus-Politik des Kremls. Manche fürchten bereits, der ganze Laden "fliege auseinander". "In Dagestan ist die Elite infiziert, dort ist der radikale Islamismus eingedrungen", zeigte sich der kremlnahe Politologe Sergei Markow alarmiert.

Grund für die Beunruhigung: Drei Söhne eines örtlichen Bezirksvorstehers, der ironischerweise gleichzeitig Sekretär der Putin-Partei "Einiges Russland" war, sollen die Rädelsführer der jüngsten Terrorattacke gewesen sein, bei der neben sechs Attentätern mehr als 15 Polizisten und ein russisch-orthodoxer Priester zu Tode kamen. Dutzende von Sicherheitskräften sollen verletzt worden sein, übrigens einen Tag, nachdem in der Region ein "Anti-Terrorgipfel" des russischen Inlandsheimdiensts stattfand. Regionale Kampfsportschulen werden für die Indoktrination der Täter mitverantwortlich gemacht.

Der teils muslimisch geprägte Kaukasus gilt in Russland seit 200 Jahren als Inbegriff des Unruheherds. Klassiker wie der dorthin strafversetzte Michail Lermontow (1814 - 1841) beförderten mit ihren Erzählungen die romantische Furcht vor dichten Wäldern, unwegsamen Gebirgen und blutrünstigen Menschen. Zwei Tschetschenienkriege und immer neue Aufstände haben Moskaus Ängste nicht gerade gelindert.

"Als ob jemand Sitzbänke umgeworfen hat"

Politologe Wladislaw Inosemtsew, der auch in westlichen Medien veröffentlicht, nannte es "pikant", dass ausgerechnet der Familienclan eines Parteigängers von Putin islamistische Verbindungen hat. Der Kreml schweige beharrlich zu den fundamentalistischen Umtrieben im Kaukasus und lasse es sogar zu, dass dort russische Gesetze missachtet würden, etwa in Tschetschenien. Mitläufer würden mit milden Strafen von zehn Tagen Gefängnis abgetan: "Der Preis für diese besondere 'Gnade' der Sicherheitskräfte, die ansonsten Blogger für viele Jahre ins Gefängnis schicken, sich aber direkt der nationalistischen und religiösen Fanatiker bedienen, waren die Leben ihrer Polizeikollegen und unschuldiger Zivilisten in Dagestan."

Inosemtsew erregte sich über "dumme und empathielose" russische Politiker, die die Gefahr einer "Islamisierung" des Kaukasus ignorierten, um in den gegenwärtigen Kriegszeiten den Burgfrieden nicht zu gefährden: "Die Grundlage eines erfolgreichen Staates ist nicht die Schaffung einer Mehrheit aus lauter Minderheiten und nicht die fortwährende Lobpreisung der Einheit der Nation, sondern die Errichtung einer Rechtsordnung, die für alle gleichermaßen gilt. Eine Ordnung, in der jedes Pogrom auch als solches bezeichnet wird und nicht als 'ein Verstoß gegen das Versammlungsrecht' verharmlost wird, als ob jemand versehentlich ein paar Sitzbänke umgeworfen hat."

"Einfacher, alle Menschen zu lieben, statt nur die Nachbarn"

Polit-Blogger Juri Dolgoruky (71.000 Fans) verwies darauf, dass Putin derzeit alles daran setze, mit radikalislamischen Staaten wie dem Iran oder Saudi-Arabien zu paktieren, um seine internationale Isolation zu überwinden. Genau das werde für den Kreml jedoch zum Verhängnis: "Für uns ist es von entscheidender Bedeutung, die Ordnung wiederherzustellen, ohne Rücksicht auf die nur eingebildete Befürchtung, das könne 'unsere islamischen Partner irritieren'. Auch die haben es nämlich auf radikale Unruhestifter abgesehen. Mit unserer Toleranz riskieren wir, unser Land allmählich in eine Drehscheibe für muslimische Extremisten zu verwandeln."

Exil-Politologe Wladimir Pastuchow schrieb sarkastisch, wer wie der Kreml gegen Windmühlen kämpfe, der dürfe sich nicht wundern, wenn er von Mühlsteinen erschlagen werde. Konkret habe das Putin-Regime den eigenen Geheimdiensten vorgeschrieben, die Schuld für Terroranschläge stets bei der Ukraine zu suchen: "Ich habe die leise Vorahnung, dass Russland dort auseinanderfällt, wo es besonders empfindlich ist, und zwar im Kaukasus. Der sowjetische Schriftsteller Michail Swetlow (1903 - 1964) hat mal gesagt, es sei einfacher, alle Menschen zu lieben als nur seine Nachbarn. Für Putin scheint es einfacher, die ganze Welt zu besiegen, als die Terroristen in der eigenen Wohnung."

Kommentator: "Füttert nicht den Wolf"

Die "Idiotie der Behörden" könne dazu führen, dass Russland "in Blut baden" müsse, fürchtete ein weiterer Blogger mit 165.000 Fans. Er regte sich darüber auf, dass der Kreml das Gerücht in Umlauf brachte, wonach die Islamisten westliche Waffen benutzt hätten, was wohl nahelegen sollte, dass sie irgendwie vom Westen gesteuert wurden: "Wow! Das ist eindeutig eine Spur westlicher Geheimdienste! Dieser Logik folgend, sind sowohl die ehemalige Sowjetunion als auch Russland an fast allen Terroranschlägen und militärischen Konflikten auf der ganzen Welt beteiligt, da Militante und Terroristen am häufigsten mit unseren Kalaschnikow-Sturmgewehren bewaffnet sind."

Leider sei es eine "Realität", dass der Kaukasus zu den "gefährlichsten Regionen der Welt" geworden sei, was Islamismus betreffe, so die Einschätzung eines Kommentators: "Das Ziel jedes Terroranschlags ist es, Panik zu verbreiten, und wenn man liest, was über die aktuellen Anschläge veröffentlicht wurde, waren die Terroristen erfolgreich." Kaukasische Clans wähnten sich in Kriegszeiten unantastbar, wurde spekuliert: "Füttert nicht den Wolf. Der Versuch, die lokalen Eliten mit Geld zu überschwemmen, die Infrastruktur zu verbessern und auf Zölle zu verzichten, hilft leider nicht gegen die Radikalen. Diesmal haben sechs Leute angegriffen - was machen wir, wenn es 600 sind?"

Kaukasus "ist keine Urlaubsregion"

Ein russischer Leser argwöhnte, Putin drücke im Kaukasus beide Augen zu, weil die Geburtenrate dort vergleichsweise hoch sei und Russland enorme demographische Probleme habe: "Das ist keine Urlaubsregion, dort leben wild gewordene Menschen, die trotz ihrer Bildung aus Sowjetzeiten die Ansicht vertreten, die Frau solle dem Mann untertan sein. Viele, besonders die jungen Menschen, lesen nur muslimische Literatur." Stalin hätte die "Ordnung in zwei Stunden wiederhergestellt", schimpften Nationalisten Richtung Putin und empörten sich, dass es der Präsident nicht für nötig halte, zu den neuesten Terroranschlägen Stellung zu nehmen.

"Wenn die Geheimdienste vollauf damit beschäftigt sind, unter Journalisten, Musikern, Schriftstellern, Künstlern und einfachen Leuten, die mit Regierungsbeamten unzufrieden sind, nach Staatsfeinden zu suchen, erheben echte Terroristen natürlich ihr Haupt und erkennen, dass der Staat jetzt keine Zeit für sie hat", schrieb ein weiterer Leser aufgebracht.

Exil-Politologe: "Putin kann nicht an die Öffentlichkeit gehen"

Der prominente Exil-Politologe Abbas Galljamow beschrieb Putins zentrales Problem so: "Sie machen sich auf die Suche nach einer ukrainischen oder amerikanischen Spur. Sobald sie welche finden, wird er auftreten. Wenn sie nichts oder nichts Relevantes auftun, wird er schweigen. Putin kann nicht an die Öffentlichkeit gehen und sagen, dass es sich um Islamisten handelt. Schließlich sagte er selbst erst kürzlich, dass 'Russland nicht das Ziel von Terroranschlägen islamischer Fundamentalisten sein kann', weil der russische Staat 'ein einzigartiges Vorbild interreligiöser Harmonie und Einheit' sei und das Verhalten Russlands im Übrigen 'keinerlei Anlass" für islamische Fundamentalisten biete, anzugreifen."

"Je verbitterter, desto intoleranter"

Politologe Dmitri Michalitschenko analysierte die wirtschaftlichen Ursachen für das Entstehen von Islamismus: "Mit der Verschlechterung der sozioökonomischen Situation verschärfen sich interethnische und interreligiöse Konflikte. Das gilt nicht nur für die 'verdammten 1990er Jahre', sondern es ist ein allgemeingültiges Gesetz in der Entwicklung der modernen Gesellschaften. Je schlechter die Menschen leben, desto verbitterter und, intoleranter werden sie und machen sich auf die Suche nach Sündenböcken." Insofern sei der Westen tatsächlich mitschuldig am Terror, weil er Russland vom Wohlstand abschnüre.

Fast wortgleich heißt es bei einem weiteren Blogger mit 50.000 Followern [externer Link]: "Das alles ist auf die Verbitterung der Menschen zurückzuführen, die der Krieg mit sich gebracht hat, die allgemeine Schwächung der Armee und der Geheimdienste, die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung, ihre Verarmung, die Archaisierung des öffentlichen Lebens, das Anwachsen von Intoleranz und Hass, die Aushebelung von Recht und Gesetz. Das sind die ständigen Begleiter des Krieges." Russland sei nicht in der Lage, an mehreren Fronten gleichzeitig zu kämpfen, was den Separatisten Auftrieb gebe: "Aber ist die Regierung bereit, ihren Kurs drastisch zu korrigieren, um eine weitere nationale Tragödie zu verhindern? Nein."

Der kremlkritische Politologe Andrei Nikulin beließ es bei einem bitteren Fazit: "Herzlichen Dank, liebe Regierung, dass wir Jahr für Jahr immer wieder zur Einsicht kommen, wie gut wir früher gelebt haben."

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