Er nennt sich "Sozialanalytiker und Psychologe" und hält als Militärblogger rund 130.000 Fans auf dem Laufenden: Roman Aljechin gehört zu den populärsten russischen Kriegspropagandisten. Doch die Bilanz seiner jüngsten Reise an die Front wirkt fast schon verzagt. Grund dafür: Die fünf Tugenden jedes Feldherrn, die der chinesische Denker Sunzi um 500 vor Christus in seinem Klassiker über die "Kunst des Krieges" gepredigt habe, nämlich Klarheit bei Ziel, Weg, Ordnung, Menschenführung und Rekrutierungsregeln, seien derzeit höchst gefährdet. Tatsächlich hatte Sunzi den Krieg als "großes Wagnis" bezeichnet, mit dem Risiko des "Untergangs".
"Eigeninitiative gilt als gefährlich"
Aljechin über seine Erfahrungen im umkämpften Gebiet in der Nähe der russischen Stadt Belgorod [externer Link]: "Wenn man nicht nur einfachen Soldaten zuhört, sondern auch Leutnants, Majoren, Obersten und Generälen, dann sagt einem jeder, dass ihm die Ziele nicht klar sind, die Strategie und Taktik nicht klar sind, die Regeln und die Ordnung nicht klar sind, es nicht klar ist, wer belohnt und wer bestraft wird und noch weniger, wen sie rekrutieren und wen sie zum Vorbild erklären."
Mit den vom Kreml verkündeten "Zielen" habe die Truppe ein "großes Problem": "An vorderster Front können sie wirklich kein konkretes, messbares, erreichbares, relevantes und zeitlich eingrenzbares Ziel der Spezialoperation benennen, und das sind genau die Eigenschaften, die ein Ziel eigentlich haben sollte." Für alle anderen Kriterien gelte dasselbe: "Jeder hat Angst, Regeln zu erstellen. Eigeninitiative gilt als gefährlich." Medaillen bekämen diejenigen, die nicht im Einsatz gewesen seien, sondern "fiktive Geschichten" verbreiteten, bestraft werde aus Rache oder Hinterhältigkeit.
"In einer Sackgasse, ideologisch und militärisch"
Allein die Schwierigkeiten bei der Bewaffnung zu beheben, werde daher keine "weitreichenden Folgen" für die Motivation haben. Vielmehr gebe es eine "Desorganisation" in der Truppe, die beseitigt werden müsse. Allerdings könne das nicht in wenigen Monaten, sondern allenfalls in Jahrzehnten behoben werden, bestätigte ein weiterer Blogger mit 720.000 Lesern.
"Ich weiß nicht, was schief gelaufen ist, aber es war eindeutig keine Angelegenheit der Armee, sie beendete ihren Aufmarsch und erreichte Kiew", so ein Kommentator: "Doch die uns versprochenen Untergrundkämpfer ließen sich dort nicht blicken. Stattdessen wurden wir von aufgebrachten Bewohnern mit schussbereiten Waffen empfangen. Trotz der bravourösen Propaganda und der Jubel-Meldungen waren sie überhaupt nicht erfreut, uns zu sehen. Im Grunde genommen stecken wir seit damals in einer Sackgasse, ideologisch und militärisch."
Putin: "Bedingungen sehr einfach"
Putin hatte nicht nur die Soldaten, sondern auch Propagandisten verwirrt, als er kürzlich bei einem Auftritt vor führenden russischen Diplomaten einen "Friedensvorschlag" gemacht hatte, wonach Russland sofort zu einem Waffenstillstand bereit sei, wenn die Ukraine ihre östlichen Regionen aufgebe [externer Link] und nicht der NATO beitrete. Diese Bedingungen seien "sehr einfach". Zuvor hatte Putin stets von einer "Entnazifizierung" gesprochen, worunter allgemein ein Regimewechsel in Kiew verstanden wurde. Außerdem war von einer "Entmilitarisierung" die Rede gewesen, ein Begriff, den Putin bei dieser Gelegenheit ebenfalls vermied. "Für diese enormen Zugeständnisse wird Putin heftiger Kritik aus den Reihen der radikalen Patrioten ausgesetzt sein", so Politologe Sergej Markow nach dem Auftritt.
"Warum Zeit mit Kleinigkeiten verschwenden?"
"Um ehrlich zu sein, sind Entnazifizierung und Entmilitarisierung schmerzlich weit ausgelegte Begriffe", urteilte ein russischer Leser hellsichtig: "Oder wird das in einer zweiten Verhandlungsrunde Thema sein? Was wäre, wenn man sich auf das eine Ziel verständigen würde, auf das andere aber nicht? Geht dann alles von vorne los?" Andere wunderten sich, dass Putin seine ursprünglichen Absichten nicht mehr im Munde führt und fragten sich und andere: "Hat es sich gelohnt, jemals damit anzufangen?"
Es gab auch Leute, die sich daran erinnern konnten, dass Putin einst die NATO-Grenzen verschieben wollte - aber anders, als es dann gekommen ist. "Warum Zeit mit Kleinigkeiten verschwenden? Soll Putin von den USA doch gleich Alaska und Kalifornien fordern - mit demselben Erfolg wie bisher", so ein ironischer Kommentar. "Die letzte Bedingung, der Putin zustimmen wird, ist, dass Russland sich an den Verhandlungstisch setzt, sobald die Bombardierung von [der russischen Grenzstadt] Schebekino aufhört. Worauf rechnet Putin bei solchen Aussagen? Die Ukraine ist uns für immer entglitten, und auch die NATO wird für immer dort bleiben", bilanziert ein Leser die Debatte um die Kriegsziele.
"Warum behält der Feind seine Kampfkraft?"
Exil-Politologe Wladimir Pastuchow will nicht ausschließen, dass sich Putin in der eigenen Zielbestimmung verheddert hat, gerade nach diversen Personalrochaden im Verteidigungsministerium und seinem Nordkorea-Besuch, wo er wohl um Waffen und Personal gebeten hat: "Der Schwachpunkt dieser Strategie besteht darin, dass der Osten generell eine heikle Angelegenheit ist. Nordkorea ist möglicherweise nicht in der Lage, zwei strategische Partner gleichzeitig bei Laune zu halten. Wenn Moskau in Pjöngjang zu stark wird, könnte es versehentlich Peking auf die Füße treten, und das ist in Putins Situation eine riskante Angelegenheit."
Von Putins jüngster, ziemlich fatalistisch klingender Drohung, notfalls werde Russland "bis zum Ende gehen", um eine Niederlage zu verhindern, zeigt sich Pastuchow wenig beeindruckt: "Nun, wenn Russland sich im 21. Jahrhundert an den französischen König Ludwig XIV. und dessen Ausspruch 'Der Staat bin ich' orientiert, dann hat Putin damit sicherlich Recht. So wie die Dinge liegen, sollte Russland allerdings mehr Angst vor einem taktischen Sieg als vor einer strategischen Niederlage haben."
"Phase der Verleugnung"
Putin und seine engere Führungsmannschaft hätten jegliche Logik bei ihren Kriegszielen aus den Augen verloren, argumentiert ein weiterer viel zitierter russischer Blogger. Sie versuchten nur noch, sich selbst zu beruhigen: "Statt in der Phase der Akzeptanz einer Reihe offenkundiger Tatsachen steckt die Führung unseres Landes in der Phase der Verleugnung fest, wobei die zur Verfügung stehenden psychologischen Methoden des Selbstbetrugs voll ausgeschöpft werden." Damit wird auf die bekannten fünf Phasen der Trauerarbeit bei erlittenen Verlusten angespielt: Verleugnung, Wut, Verhandlungsversuche, Depression und Akzeptanz.
Der russische Präsident halte sich aus Verzweiflung wohl bis auf weiteres an das Zitat, das dem deutschen Philosophen Hegel nachgesagt wird, übrigens ohne genaueren Beleg: "Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen!" Der Kreml müsse sich erst noch an die "Realität" gewöhnen: "Sie können die Schachuhr dreimal schneller drücken als Ihr Gegner, aber wenn Sie gegen einen Großmeister spielen, wird Ihnen dieser taktische Vorteil nicht viel bringen."
Offenbar hat der Kreml das Rätselraten in den eigenen Reihen nur noch vergrößert. Das gilt auch für Putins Behauptung, die Ukrainer würden fünf mal mehr Soldaten verlieren als die Russen. Dazu der Militärblogger Schiwoff [externer Link] (100.000 Fans) mit verblüffender Logik: "Ich maße mir nicht an, unsere Verluste zu beurteilen, aber die 500.000 Abgänge beim Feind sind mit den Treffern von Lenkwaffen erklärbar. Es gibt Dutzende solcher Schläge pro Tag. Seit einem Jahr, täglich. Daher die kolossalen Verluste. Die Frage ist nur: Warum behält der Feind trotz solcher Verluste seine Kampfkraft?!"
"Wer schneller ist, gewinnt"
Semjon Pegow, besser bekannt als "Wargonzo" mit 1 Million Abonnenten, schrieb selbstkritisch: "Natürlich befinden wir uns nicht auf einem Floß und überlassen alles weitere allein der Strömung. Unsere Fortbewegung erinnert eher ans Rudern. Das reicht aber eindeutig nicht aus, wenn wir immer noch Ziele der Spezialoperation im Munde führen. Sie werden natürlich irgendwann erreicht, aber sie sind noch lange nicht erreicht." Es sei höchste Zeit, die "Segel zu setzen", so Pegow, jedenfalls bei "ehrgeizigen Zielen". Das allerdings erfordere "Kompetenz", die er offenbar an der Spitze vermisst. Jedenfalls setzt er seine Hoffnungen auf eine "neue Kaste von Managern, die den Fronttest bestanden" hätten.
Nicht mal der rechtsextreme "Philosoph" und Kreml-Fan Alexander Dugin kann sich mit der derzeitigen Lage anfreunden [externer Link]. Russland sei viel zu langsam, im Unterschied zu den "leichtfüßigen, flinken und flexiblen" Ukrainern: "Sie suchen wie Insekten nach unseren Schwachstellen." Dugin zitiert den französischen Denker Paul Virilio (1932 - 2018), der das Zeitalter der "Dromokratie" ausgerufen hatte, worunter er die "Diktatur der Geschwindigkeit" verstand. "Wer schneller ist, gewinnt", fasste Dugin sein Fazit zusammen.
"Wir müssen flexibler werden"
"Es ist offensichtlich, dass wir noch nicht mit voller Kraft kämpfen, nicht alle Ressourcen ausgeschöpft, das Potenzial der patriotischen Idee nicht ausreichend mobilisiert und den inneren Feind nicht wirklich dingfest gemacht haben", so der Propagandist: "Wir bewegen uns stetig in diese Richtung, schwanken aber immer noch und nehmen erst allmählich Geschwindigkeit auf. Wir verfügen über ein großes Arsenal an Mitteln, einschließlich der Fähigkeit, aktiv die Destabilisierung der Gesellschaften unserer Feinde zu befördern – in den USA und in Europa. Innerhalb des Landes kommt es entgegen den Beteuerungen aber nicht wirklich zu einem Austausch der Eliten, und kleine Veränderungen, wenn auch nützliche und lang erwartete, sind gut, aber nicht ausreichend."
Nicht nur Semjon Pegow pflichtet Dugin bei: "Der entscheidende Faktor für die erfolgreiche Niederlage des Feindes ist derzeit nicht die Stärke der Munition, obwohl sie sicherlich sehr wichtig ist, nicht die Reichweite (die auch von größter Bedeutung ist), sondern die Geschwindigkeit, mit der wir das Feuer eröffnen und die Treffergenauigkeit. Da müssen wir besser und noch flexibler werden", so ein Blogger mit 610.000 Fans.
"Was hilft uns das?"
Polit-Blogger Alexander Chodakowski (525.000) machte sich darüber lustig, dass der Kreml über Angriffe der Ukraine auf die russische Infrastruktur klagt: "Es ist seltsam zu argumentieren, dass eine Seite das Recht hat, etwas zu tun, während der anderen dieses Recht vorenthalten wird – am Ende kann es leicht zu der lächerlichen Frage führen: 'Was hilft uns das?'" Ein langwieriger Krieg sei halt immer eine "zweischneidige" Angelegenheit: "Wir werden nicht dadurch gewinnen, dass wir uns bei internationalen Behörden beklagen."
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