Kriegsrat am 20. Februar im Kreml
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Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Präsident Putin (rechts)

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"Minimale Verluste": So bringt Putin Soldaten gegen sich auf

Bei einem Treffen des russischen Präsidenten mit seinem Verteidigungsminister Sergej Schoigu war ausschließlich von Erfolgen an der Front die Rede. Militärblogger empörten sich daraufhin über "Lügen" und wollen "Schlächter vor Gericht stellen".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Lasst uns die Leute nicht belügen. Mir fehlen die Worte", schrieb einer der prominenten russischen Militärblogger mit 63.000 Fans voller Wut nach einem Treffen von Putin mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu im Kreml. Ein weiterer Blogger wollte in einem Wutanfall sogar "einfach alle Internetseiten löschen".

Bei dem Propaganda-Event hatten die beiden Politiker sich gegenseitig mit Lob überschüttet und angebliche militärische Erfolge gefeiert. Dafür ernteten sie im eigenen Land jede Menge Hohn und Spott, speziell bei den eigenen Soldaten. So hatte Schoigu nebenbei erwähnt, dass er kürzlich mit Putin bis vier Uhr in der Früh beim Kriegsrat zusammen saß, also "Tag und Nacht" in Verbindung bleibe, was das liberale Wirtschaftsblatt "Kommersant" mit den ironischen Worten kommentierte: "Ja, sie stecken rund um die Uhr die Köpfe zusammen, und selbst, wenn sie sich gerade nicht persönlich treffen, reden sie trotzdem weiter. Das heißt, sie trennen sich fast nicht mehr voneinander."

"Wir haben viele Munitionsfabriken"

Besonders aufgebracht sind die russischen Beobachter über die vermeintlich "minimalen Verluste bei maximaler Effizienz", von denen Schoigu gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur TASS im Zusammenhang mit der Eroberung der ukrainischen Kleinstadt Awdijiwka sprach. Die Offensive werde gewiss in die "Lehrbücher" eingehen und an den Militärakademien analysiert, prahlte der Politiker. Auch die Behauptung des Ministers, wonach ein ukrainischer Brückenkopf am Dnjepr-Ufer bei dem Dorf Krynki erobert sei, sorgte für eine Flut von bitteren Meinungsäußerungen aus den eigenen Reihen. Alle "Aufräumarbeiten" seien an dem besagten Frontabschnitt abgeschlossen, zitierte Schoigu seine Generäle. Putin selbst hatte zunächst davon gesprochen, die Gegend sei "praktisch, nein vollständig" unter Kontrolle und angefügt: "Aber drei oder vier ukrainische Soldaten treiben sich immer noch irgendwo da draußen rum – entweder in den Wäldern oder in Erdlöchern – wie Sie sagten, Sie verstecken sich immer noch."

Offenbar wollte der Kreml mit der demonstrativen Begegnung zwischen Putin und Schoigu gute Stimmung machen kurz vor der Präsidentschaftswahl, zumal zum 2. Jahrestag des Angriffskrieges. Das ausführliche TASS-Interview des Ministers sollte demnach wohl zusätzlich den Optimismus befördern. Eine einzige russische Munitionsfabrik produziere in vier Monaten so viele Granaten wie "alle NATO-Staaten zusammen monatlich", brüstete sich Schoigu: "Und wir haben viele Fabriken." Armee und Gesellschaft hätten sich grundlegend verändert und machten gerade ein "Peeling" durch: "Schauen Sie sich die Gesichter dieser Jungs an. Nun, dem gibt es nichts hinzuzufügen."

"Wer nicht raucht, wird qualmen"

Soviel Eigenlob ertrugen zahlreiche Militärblogger nicht: "Er lügt dem Präsidenten ins Gesicht", schimpfte einer von ihnen (139.000 Abonnenten) über Schoigus groteske Bestandsaufnahme. Offenbar gehe es den am Frontabschnitt von Krynki tätigen Offizieren mit ihrer Schönfärberei mal wieder ausschließlich um ihre eigenen Beförderung. "Die brutalsten Kämpfe um Krynki werden im Internet ausgefochten", hieß es in einem der größten russischen Telegram-Kanäle (566.000 Fans): "Sogar die paar Dutzend Offiziere unserer Armee am Dnjepr-Ufer sind baff, wie wir mit uns selbst kämpfen." Es sei wahrscheinlich angebracht, eine Zigarette rauchen zu gehen: "Manchmal ist es besser, das in aller Stille zu tun." Unmittelbare Antwort eines Lesers: "Wer nicht raucht, wird qualmen [vor Wut], schweigend."

Tatsächlich hätten die russischen Truppen den ukrainischen Brückenkopf allenfalls verkleinert, aber keineswegs beseitigt: "Der Feind versucht, ein paar Quadratmeter Land unter seiner Kontrolle zu halten, und die Folgen dieser Entscheidung sind für uns keineswegs tröstlich."

"Unmöglich zu schweigen"

Ein weiterer Blogger mit über einer halben Million Fans attackierte Schoigu persönlich: "Wir wissen, dass unser Verteidigungsminister keine militärische Ausbildung hat, deshalb werden wir eine kleine Korrektur anmahnen: Wenn der Feind noch in den Kellern sitzt, ist das besiedelte Gebiet noch nicht geräumt." Offenbar habe sich der Minister auf die Quantenphysik verlegt mit ihren sprichwörtlich "unscharfen" Vorhersagen. Die vom Kreml verbreiteten Informationen seien "absolut unwahr". Frontsoldaten hätten schon gespottet, wenn Krynki erobert sei, könne Schoigu ja gern zu Besuch kommen.

Schoigu sei eine Art "Anti-Midas", wütete Blogger Swatoslaw Golikow: Im Gegensatz zum mythologischen König, bei dem alles, was er anfasste, zu Gold wurde, schmälere der Politiker jeden Verdienst, den er würdige. Er sei schon zwei Mal "zum Rauchen" gewesen, so der Kommentator: "Es ist jedoch unmöglich zu schweigen." Vielleicht sei es an der Zeit, die "Schlächter vor Gericht zu stellen", wetterte Militärjournalist Roman Saponkow, nachdem abermals viele russische Soldaten bei einem ukrainischen Raketenangriff auf einen Truppenübungsplatz ums Leben gekommen sein sollen. Angeblicher Grund dafür: Ein Kommandeur hatte seine Untergebenen zu einem "Motivations"-Appell antreten lassen - war aber selbst nie erschienen.

Kurz darauf griff die Ukraine einen weiteren Übungsplatz an, was erneut viele Opfer forderte. "Niemand kann Dummheit beseitigen", erregten sich aufgebrachte Netzkommentatoren. Andere forderten eine "durchgreifende Änderung der Sicherheitsvorkehrungen und Ausbildungsprogramme", weil die Ukraine mit ihren Drohnen immer tiefer ins russisch besetzte Hinterland vordringen könne.

"Fühle mich richtig schlecht"

Der "wahrscheinliche" Tod des bekannten Bloggers und Feldwebels Andrej Morosow ("Mursa") verschärfte die Auseinandersetzung um Putins Propaganda-Aktion, denn der Frontkämpfer hatte auf seinem Telegram-Kanal mit 111.000 Fans ausführlich und sehr aggressiv mit der von ihm behaupteten Unfähigkeit der russischen Armee abgerechnet: "Ich fühle mich richtig schlecht." Grund dafür seien Generäle, die Tausende von Soldaten opferten, um sich selbst hervorzutun und Journalisten, die "ihre Karriere auf TV-Lügen aufbauen".

Die russischen Verluste bei der Eroberung von Awdijiwka seien seinen Informationen zufolge monströs gewesen. Ganze Regimenter seien "fast auf null" reduziert worden, der Verlust von Ausrüstung unübersehbar: "Das Schlimmste an dieser ganzen Geschichte, das schlimmste Zeichen für zukünftige neue Scheißkerle an der Spitze, ist, dass einem Soldaten des 'aufgeriebenen' Regiments 1487 die Entgegennahme seiner Aussage und ein ordentliches Verfahren verweigert wurde, als er es bei der Militärstaatsanwaltschaft in St. Petersburg anstrengen wollte. Wie der Volksmund sagt: Diejenigen, die er zur Verantwortung ziehen wollte, waren bereits zu Helden ernannt worden. Und ihr, Soldaten, sterbt schweigend."

"Trinken Sie einfach zwei Tage lang"

Von einem vorgesetzten Oberst sei er massiv unter Druck gesetzt worden, seine kritische Äußerung zu löschen, so Morosow in seinem "Abschiedsbrief". Ansonsten werde seine Einheit nicht mehr mit Nachschub beliefert: "Es stellte sich heraus, dass ich nicht unter Ihrem Kommando dienen kann, unter dem Kommando eines Mannes, der in einer kritischen Situation in einem umkämpften Gebiet eine kopflose Brigade übernommen und die Situation 'bereinigt' hat. Ich kann nicht unter Ihnen dienen und gleichzeitig die Wahrheit aussprechen. Ich bin im Kampf gestorben."

Mit Verweis auf ein berühmtes Zitat aus dem amerikanischen Action-Film "Terminator" (1984) verlangte Morosow von Vorgesetzten, Soldaten künftig zu ermuntern, ihr "Schicksal selbst in die Hand zu nehmen", statt sie mit der Bemerkung zu entmutigen, es lasse sich eh nichts ändern: "Abgesehen davon möchte ich mich persönlich bei James Cameron für diesen wunderbaren Film bedanken." Mit makabrem Humor beendete Morosow seine Botschaft an die Kameraden: "Mein letzter Wille an die überlebenden Soldaten dieses Krieges ist, dass sie nie wieder darüber streiten sollen, wann der Tag des Verteidigers des Vaterlandes gefeiert werden soll – am 22. oder 23. Februar. Trinken Sie einfach zwei Tage lang. Jeder, der bis zum Sieg überlebt, hat für den Rest seines Lebens Anspruch auf diesen doppelten Feiertag. Und dann wird es zur Tradition."

"Bombenexplosion in der Gesellschaft"

Der Blogger Roman Aljechin (114.000 Fans) bezeichnete den mutmaßlichen Tod von Morosow als "Bombenexplosion innerhalb der russischen Gesellschaft". Während das Ableben des Regimekritikers Alexej Nawalny die "Patrioten" noch im Widerstand gegen den Westen geeinigt habe, drohe jetzt eine Spaltung dieses Lagers: "Der Tod von Mursa führt zur Apathie vieler Patrioten, sowie anständiger Menschen an der Front. Das Traurige daran ist, dass die Behörden dieser Spaltung, die die Gesellschaft zerstört, keinerlei Beachtung schenken, und dass staatlich alimentierte Propagandisten, die den Behörden absichtlich oder aus Rachsucht und Inkompetenz nach Kräften schaden, diese Spaltung noch verstärken."

"Sie verkaufen Kampfgeist gegen Geld"

Einer der bekanntesten Blogger schrieb vergleichsweise zaghaft: "Wir hoffen, dass es keine Meinungsverschiedenheiten darüber geben wird, dass der Tod eines russischen Soldaten immer eine Tragödie ist." Es habe sich herausgestellt, dass Russland "nicht in der Lage" sei, alle Ressourcen einzusetzen, um "gemeinsame Ziele zu erreichen". Die kremltreue Bloggerin Julia Witjasewa, der eine Mitschuld am Schicksal von Morosow vorgeworfen wird, meinte: "Was geschah, belastet ausschließlich das Gewissen derjenigen, die von den Problemen ihres vermeintlichen Freundes und Kameraden wussten, aber nichts taten, um ihm zu helfen, und seinen instabilen Geisteszustand für ihre eigenen egoistischen Zwecke ausnutzten."

Der im Exil lebende Politologe Anatoli Nesmijan vermutete, Morosow sei Opfer seiner "Kampfpsychose", also eines labilen Geisteszustands geworden, ein Problem, das Putins Propagandisten nicht hätten: "Sie verkaufen ihren Kampfgeist gegen Geld und leiden daher nicht unter psychischen Problemen, ihr Hass auf die Welt um sie herum ist rein finanzieller Natur." Dagegen behauptete der kremlnahe Propagandist Sergej Markow, der mutmaßlich Verstorbene habe die Probleme der russischen Armee ebenso "übertrieben" wie die Zahl der Gefallenen bei Awdijiwka. Morosow hatte von 16.000 Toten gesprochen: "Es ist klar, dass psychische Instabilität der Hauptgrund ist. Es wird keine Konsequenzen geben. Aber es wird weltweit immer mehr solche Tragödien im Stil von [dem sozialen Netzwerk] Telegram geben."

"Besser zum Psychiater"

Im wichtigsten Militärblog "Rybar" mit 1,2 Millionen Nutzern war zu lesen: "Ja, Morosow war Wasser auf die Mühlen des Feindes. Aber wie dem auch sei, ich bin aufrichtig davon überzeugt, dass er dies für das Gemeinwohl tat." Der Krieg gehe "an niemandem spurlos vorüber", der Blogger habe sich in der "negativsten Weise" über die Probleme von Putins Armee geäußert: "Es ist bedauerlich, dass sich dieser Vorfall vor dem Hintergrund aktueller politischer Ereignisse ereignete und dem Feind im Zusammenhang mit dem Verlust von Awdijiwka als ziemlich grelles Nachrichtenthema dient, das von den Feinden Russlands und feindlichen Telegram-Kanälen genutzt wird."

Deutlich selbstkritischer die Einschätzung des Bloggers Alexander Kartawych: "Wenn das alles vorbei ist, müssen wir uns alle treffen und zu einem Psychologen gehen. Oder vielleicht besser zu einem Psychiater. Denn zwei Jahre Spezialoperation sind hart für eine normale, gesunde Psyche. Wir alle, die beruflich im blutigen Medienstrom mit schwimmen und wenigstens eine Spur von Empathie bewahrt haben, sind zutiefst traumatisierte Menschen, weil man jeden Tag reichlich Blödsinn mit anschauen muss, die Abläufe zur Kenntnis nimmt, Zugang zu einigen Insiderinformationen hat und (in der Regel) nichts tun kann."

"Er hätte Fehler aufgespürt"

Roman Romanow bedauerte, dass Morosow durch das "Grauen um ihn herum und die Unfähigkeit, daran etwas zu verändern" zerstört worden sei. Die "Gefahrensignale", die er gefunkt habe, hätten nur den Feind interessiert: "Genau dieser Morosow wäre in einem normalen System von einem sehr geheimen Dienst rekrutiert worden, um eine Sache zu erledigen, die er sehr gut konnte: Er hätte Fehler der Behörden aufgespürt und Sabotage entlarvt. Darüber hinaus zeichnete er sich durch seine absolute Selbstlosigkeit aus, man konnte ihn nicht kaufen. Und mit absoluter Furchtlosigkeit ließ er sich nicht einschüchtern."

"Hin zu einer neuen Realität"

Vom "Chaos im Kopf" von Morosow wollte ein Kommentator gehört haben und der Lektüre von allzu viel martialischer "Fantasy"-Literatur. Die gleichzeitige Furchtlosigkeit des Bloggers bei der Veröffentlichung von Verlustdaten und der Aufdeckung von Defiziten an der Front habe die "Korrespondentenriege vor Hysterie in den Wahnsinn" getrieben: "Vielleicht wird seine Tat nichts ändern und rein symbolisch nur den Sieg der Propagandatruppe besiegeln, mit der er in letzter Zeit gerungen hat. Allerdings kann man in den jüngsten Ereignissen, wenn man möchte, den Beginn eines neuen Trends erkennen – eine Umkehr von einer Situation, in der es dem System gelungen ist, alle politischen Gegner zu spalten, hin zu einer neuen Realität, in der diese Gegner, zumindest die verbliebenen, keine andere Wahl haben, als sich zu vereinen."

Die "Schurken im Fernsehen", die Morosow wegen seiner Kritik geschmäht hätten, seien "leider glücklich", hieß es in den Leserbrief-Spalten russischer Blätter: "Aus irgendeinem Grund sterben plötzlich nur noch Gegner des Kremls." Ironisch wurde gefragt, ob womöglich wieder ein "Blutgerinnsel" im Spiel gewesen sei, wie beim Regime-Gegner Alexej Nawalny. Ein literarisch Bewanderter erinnerte an den mitleidlosen und zynischen Ausspruch von Zar Nikolaus I. (1796 - 1855) nach dem Tod des berühmten Dichters Michail Lermontow (1814 - 1841) bei einem (gerüchteweise vom Zar selbst provozierten) Duell: "Da krepierte ein Hund."

"Uns wurde inzwischen gut beigebracht, alles zu verstehen und zu schweigen", fasste ein Leser den ganzen Vorgang zusammen.

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