"Die Absurdität der Situation um Nawalny bestand darin, dass die Behörden kein Interesse an seinem Tod hatten, sich aber gleichzeitig auch nicht um seine Rettung oder seine Gesundheit bemühen konnten", so einer der prominentesten russischen Blogger mit 190.000 Fans sarkastisch: "Wenn das Ziel darin bestanden hätte, Nawalny am Leben zu halten, wäre er überhaupt keinem Risiko ausgesetzt worden. Demnach sind also sein Schicksal und die äußeren Umstände an allem schuld. Aber irgendetwas sagt mir, dass wir es unbedingt herausfinden müssen."
Auch kremlfreundliche Kommentatoren erwarteten jetzt eine "Phase der Turbulenzen". Der Tod Nawalnys sei für Putin schwerwiegender als die Weigerung der Ukraine, sofortige Waffenstillstandsverhandlungen zu beginnen. Der vom Regime als "ausländischer Agent" bezeichnete Alexej Wenediktow (217.000 Fans) schrieb, es sei eine "ungeheure Katastrophe" für Nawalnys Familie und Mitarbeiter, aber nicht nur für diese unmittelbar Betroffenen: "Meiner Meinung nach ist das auch ein ungeheurer Verlust für ganz Russland, da Alexej einen wettbewerbsfähigen, anderen Weg für unser gemeinsames Land darstellte."
"Meist hungern sie sogar"
Eine Anspielung darauf, dass der Regime-Gegner ständig wegen angeblicher Vergehen in Sonderzellen gesteckt und in ein arktisches Straflager verlegt worden war. Zuletzt waren ihm am 14. Februar weitere 15 Tage in einem Straftrakt auferlegt worden, wobei in diesem Fall kein Grund bekannt wurde. In früheren Fällen hatte es seitens der Gefängnisleitung geheißen, er habe sich "falsch vorgestellt" oder geweigert, ein "Quarantäne-Formular zu präsentieren".
Die russische Menschenrechts-Expertin Eva Merkaschewa sagte zu den Schikanen: "Ich glaube, dass die endlosen Aufenthalte in der Strafzelle dazu geführt haben könnten. Das heißt, er war einmal, zweimal, dreimal dort, und die Zahl seiner Aufenthalte in der Strafzelle stieg einfach dutzendfach. In der Strafzelle herrschen sehr schwierige Lebensbedingungen. Die Menschen dort frieren am häufigsten, meist hungern sie sogar. Aus diesem Grund wurden strenge Anforderungen festgelegt, dass eine Einweisung nicht länger als eine bestimmte Anzahl von Tagen erfolgen darf." Nawalny sei mitunter an ein und demselben Tag in den Sondertrakt zurückgeschickt worden.
Die russischen Strafanstalten hätten sich seit den Tagen des GULAG nicht wesentlich weiterentwickelt, gab Publizist Wladimir Dergatschew zu bedenken. Zwar sei Folter nicht an der Tagesordnung, wohl aber schlechte Ernährung und "unmenschliche" Bedingungen, auch mangelhafte medizinische Versorgung: "Die richtige Reaktion der Behörden nach Nawalnys Tod wäre nicht die Schaffung neuer Verschwörungstheorien, sondern eine vollständige Reform der Justizvollzugsanstalten. Menschen in abgelegenen Regionen, die 20.000 Rubel verdienen [umgerechnet etwa 200 Euro monatlich], werden mit Gefangenen nie pfleglich umgehen."
"Mit einem lebenden Nawalny wäre es einfacher"
Blogger Igor Dimitriew (113.000 Fans) fragte sich und sein Publikum, wer Nawalny nach seiner medizinischen Behandlung in Deutschland wohl zur Rückkehr nach Russland überredet und ihm garantiert habe, "dass alles wieder gut" werde. Auch Politologe Alexander Baunow schrieb, die Frage, ob Nawalny nach Russland zurückkehren sollte, sei jetzt beantwortet. Hier könne es nur "Märtyrer" geben. Das Regime habe schließlich schon mehrmals versucht, ihn auszuschalten.
"Natürlich kehrte Nawalny innerlich bereit zum Sterben aus Deutschland nach Russland zurück", so Polit-Kommentator Dmitri Sevrjukow: "Aber es ist unwahrscheinlich, dass die russischen Behörden derzeit mit der gleichen Gefasstheit auf seinen Tod vorbereitet sind. Mit einem lebenden Nawalny wäre es einfacher, mit einem toten wird es schwieriger." Putins Präsidentschafts-"Wahlkampf" werde nun in einem denkbar negativen Licht geführt. Es sei längst vergessen, dass der Präsident Nawalny nach einem lebensgefährlichen Gift-Anschlag immerhin erlaubt habe, sich in Deutschland behandeln zu lassen.
"Zeiten der Pflanzenfresser sind vorbei"
Die Tragödie bestehe darin, argumentierte Kommunikationsexperte Kirill Schulika, dass Nawalny kein Publizist, Blogger oder Aktivist war, denn diese Tätigkeiten habe er auch aus dem Exil fortführen können, sondern ein Politiker. Und in dieser Funktion sei er gezwungen gewesen, nach Russland zurückzukehren, da Politiker im Ausland keinerlei Einfluss hätten: "Alles war in Wirklichkeit an dem Tag entschieden, als Nawalny aus Deutschland zurückkehrte. Und die einzige Hoffnung, die es gab, war, dass er noch recht lang in Russland leben durfte. Aber leider kann das nicht jeder."
Der im Ausland lebende Star-Blogger Anatoli Nesmijan schrieb: "Es bestand kein Zweifel daran, dass Nawalny im Gefängnis getötet werden würde. Die Zeiten der Pflanzenfresser sind vorbei, das Regime kann nur noch töten. Es wäre überraschend gewesen, wenn es Menschlichkeit gezeigt und beispielsweise Nawalny aus Kulanz ausgewiesen oder ausgetauscht hätte." Die Frage sei allerdings, welches "Angebot" der Regimekritiker erhalten habe, das ihn nach Russland zurück gelockt habe: "Er wirkte wie ein Selbstmörder, aber was war der Grund für eine solche Entscheidung?"
"Ihr werdet niemals was beweisen können"
Der Tod politischer Gegner sei in Russland "Teil der politischen Kultur" geworden, bestätigte ein innerrussisches Fachportal: "Das ist natürlich eine Anomalie. Es ist sogar ein Zeichen für ein Land mit einem unterentwickelten politischen System, wo die ideale Lösung eines Problems nicht ein Kompromiss, sondern der Tod ist. Solche Systeme sind fragil. Es ist schwierig, allein durch erzwungene Loyalität zu überleben; und allein die Angst vor dem Frieden ist destruktiv für die stabile Struktur des Regimes." Es sei für Putin und seine Leute höchste Zeit, die entstandenen "Risiken" rational einzuschätzen.
Exil-Politologe Wladimir Pastuchow wagte eine sehr genaue Prognose über die bevorstehende Propaganda-Offensive des Kremls in Sachen Nawalny: "Die Hauptthese, die allen 'Alibi'-Behauptungen vorangestellt wird, wird sein: 'Das ist für Russland nicht vorteilhaft.' Der Kreml hatte kein Motiv, was bedeuten soll, dass es auch kein Verbrechen gab. Nach einiger Zeit verwandelt sich die These vom Fehlen von Motiven im Kreml in die These vom Vorhandensein von Motiven im Westen und bei der Opposition. Diese These wird dann zum Hauptbeweis werden." Im Übrigen werde Putin "schweigsam" bleiben und seine Helfershelfer zu "propagandistischen Schneestürmen" ermuntern: "Über offizielle Kanäle wird dann die übliche Botschaft im Stil des [russischen UNO-Botschafters] Wassili Nebenzya ventiliert: 'Ihr werdet niemals irgendetwas beweisen können'."
"Radikaler Zusammenbruch des Systems"
"Für mich ist sein Tod wie das Ende einer Ära", gestand Bloggerin Marina Achmedowa (72.000 Abonnenten). Es sei eine "Schande", dass der erst 47-jährige Oppositionelle sterben musste, wo er sich doch in dem Alter eigentlich um seine Familie sorgen müsste: "Eine neue Ära hat begonnen und das Gerinnsel löste sich." Das war wohl absichtlich doppeldeutig formuliert. Auch Blogger Dmitri Bastrakow erwartet jetzt "bestimmt etwas Neues, Großes und Unbekanntes", da alle "ikonischen Menschen, die zu Symbolen geworden seien", aus irgendeinem geheimnisvollen Grund stets mit dem Ende einer Ära zu Tode kämen: "Alle aufsehenerregenden gewaltlosen Todesfälle der letzten Jahre deuteten auf die eine oder andere Weise den radikalen Zusammenbruch des bestehenden Systems an."
"Klassischer russischer Gottesnarr"
Ein russischer Historiker meinte melancholisch: "Aus rein menschlicher Sicht tut mir Alexej Nawalny leid. Selbst in seinen Wahnvorstellungen war er hellsichtig und aufrichtig. Klüger und aufrichtiger als jeder andere russische Staatspolitiker, der in den Tiefen des Staatsführungs- und Propagandasystems hervorgebracht wurde." Nawalnys Charisma sei "magnetisch" und in Russland unerreicht gewesen: "Andererseits verkörperte er natürlich den Archetyp des klassischen 'russischen Gottesnarren', der uns bereits in der Ära der Revolution präsentiert wurde. Ein Narr, der von bösen und nicht russischen Menschen als Rammbock und als öffentliches Instrument benutzt wurde. In dieser Hinsicht ist sein Ende traurig, aber logisch."
Der im Exil lebende Politikwissenschaftler Abbas Galljamow vermutete, dass Putin den "Falken" im Kreml jetzt "völlig freie Hand" gegeben habe, zumal nach den frustrierenden Erfahrungen mit der Präsidentschafts-Kandidatur des über Nacht populär gewordenen Kriegsgegners Nadeschdin. Sein Wahlkampf wurde aufgrund angeblich gefälschter Unterstützer-Unterschriften von den Behörden verhindert. Offenbar gelte jetzt wieder der alte Spruch "kein Mensch, kein Problem".
"Sie sollten zumindest Angst haben"
"Diese Geschichte wird die Wahlen in zweierlei Hinsicht beeinflussen", so Galljamow: "Einerseits werden die Menschen jetzt noch weniger Lust haben, für Putin zu stimmen; Andererseits wird es noch schrecklicher, aktiv gegen ihn vorzugehen, aber da das Regime jetzt davon ausgeht, dass es egal ist, wie abgestimmt wird, ist es wichtig, im Auge zu behalten, wie sie denken." Für die USA sei die neue Lage "von Vorteil", besonders für die dortigen "Falken". Zu Putins Position bemerkte der Politologe: "Sie beschlossen, die Legitimität wie ein Kinderspiel aufzugeben. Putin erkannte schließlich, dass er die Liebe seiner Untertanen ungefähr so deutlich im Blick hatte wie seine eigenen Ohren, und beschloss, dass sie zumindest Angst haben sollten."
Kreml-Propagandist: "Es war alles umsonst"
"Es ist schade um ihn", so der russische TV-Propagandist Sergej Markow nach dem von den russischen Behörden bestätigten Tod von Alexej Nawalny. Der prominenteste Regime-Gegner, der nach offiziellen Angaben in seiner Haft nach einem Hofgang einem "Blutgerinnsel" erlegen sein soll, hätte "gerettet werden können", behauptete Markow dreist, nämlich dann, wenn er nach seiner medizinischen Behandlung in Deutschland nicht wieder nach Russland eingereist wäre: "Es war alles umsonst. Eine unbekannte Macht zog Nawalny in den Abgrund." Vergeblich habe der Kreml versucht, Nawalny zu überreden, im Ausland zu bleiben. Putins Leute hätten sich darüber hinaus bemüht, den Mann davon abzubringen, für den "amerikanischen Geheimdienst zu arbeiten".
Markow steuerte auch gleich eine passende Verschwörungstheorie bei und legte wenig überraschend nahe, der Westen habe ein Zeichen setzen wollen: "Nawalny soll einen Monat vor Putins Wahl plötzlich und zufällig gestorben sein? Diese Wahlen, von deren Störung Nawalnys Chefs, vertreten durch die amerikanischen und britischen Geheimdienste, träumen? Ist das alles Zufall? Kaum zu glauben. Die Version eines Märtyrers sollte die naheliegendste sein."
"Warum erklären, was alle wissen?"
Kremlsprecher Dmitri Peskow beließ es bei dem Hinweis, Putin sei über alles informiert, der Vollzugsdienst werde alles "abklären" und die Ärzte sicherlich die genaue Todesursache herausfinden. Die örtlichen Gefängnisbehörden hatten sich beeilt mitzuteilen, vom verstorbenen Gefangenen seien "keinerlei Beschwerden" eingegangen - obwohl Nawalny in den letzten Wochen mehrfach die unmenschlichen Bedingungen in dem arktischen Straflager und das brutale Verhalten seiner Aufseher kritisiert hatte.
Denkbar zynisch äußerte sich Margarita Simonjan, die Chefredakteurin des TV-Senders "RT": Es mache aus Kreml-Sicht gar keinen "Sinn", Nawalny umzubringen, weil dies "widrigen Kräften" helfen würde: "Warum etwas erklären, was eh schon alle wissen?" Sie habe nur darauf gewartet, bis westliche Medien einen Justizmord unterstellten. Lettland komme diesbezüglich ein "Oscar" für die schnellste derartige Unterstellung zu, dabei hätten doch "alle schon vor langer Zeit" Nawalny "vergessen".
Vergleich mit Ajatollah Chomeini
Michail Rostowski, Chefkolumnist der größten russischen Zeitung "Moskowski Komsomolez", verglich Nawalnys Strategie mit der des iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chomeini, der einst auch aus dem Exil zurückkehrte und von den Massen am Flughafen empfangen wurde. Doch mit dieser Umsturzfantasie habe sich Nawalny verrechnet. Der Kreml bestehe eben nicht aus "zu Tode verängstigten Schwächlingen": "Das russische politische System ist so strukturiert, dass es absolut unmöglich ist, die Regierung zu besiegen, wenn sie die Kontrolle über die Sicherheitskräfte behält, wenn sie selbstbewusst ist und bereit ist, schwierige und unpopuläre Entscheidungen zu treffen."
Die Frau des inhaftierten Rechtsextremen Igor Girkin (Strelkow), der Putin monatelang übel beschimpft hatte, ließ die Öffentlichkeit wissen, sie mache sich nach Nawalnys Tod "große Sorgen" um ihren Mann.
Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!