Wie das Pendel einer Uhr schaukelt ein einzelner Schweinwerfer an der Bühnendecke hin und her, Tick-Tack. Im rhythmischen Lichtkegel sieht man eine graue Gestalt. Sie kauert an der Bühnenkante und bearbeitet ein kleines Mischpult. Zaghaft fährt der Beat hoch. Es wird hell.
Schattierungen von Grau
Zwischen den weichen weißen Vorhängen tauchen die Tänzerinnen und Tänzer auf – und wieder ab. Ihre mit reichlich Stofffalten gefertigten Kostüme zeigen mindestens 50 Schattierungen von Grau. Niemand gleicht dem oder der anderen, was die Hautfarbe angeht, die Kleidung, die tattoo-ähnliche Körperbemalung, Größe, Frisur, Gesichtsmaske und Schmuck.
Neun grundverschiedene Individuen schreiten und springen barfuß und in rechtwinkeligen Formationen die Bühne ab, als wäre die der Laufsteg des Alltags. Ihr Blick ist starr, sie wirken hektisch und fremdgesteuert.
Individuum und Gemeinschaft
Ein beklemmendes Gefühl schwappt dabei von der Bühne. Man kennt das, dieses Nicht-in-die-Augen Schau-Syndrom: Aus der U-Bahn. Vom Flughafen… vom Uni-Campus, aus dem Büro, aus der Fußgängerzone, der Kantine, aus dem Supermarkt. Man bewegt sich in einer Gruppe und tut so, als ob man allein wäre!
Und genau darum dreht sich in der Performance GREY eigentlich alles: Um das Individuum und die Gemeinschaft. Manchmal dreht es sich sogar im buchstäblichen Sinne, wenn einer der Tänzer einen sogenannten "power move" hinlegt und auf dem Kopf rotiert wie ein Kreisel.
Choreografie der Gefühle
Das Regieteam Serhat "Saïd" Perhat und Sophie Haydee Colindres Zühlke erschafft verschiedene Bilder, die alle, ohne eine konkrete Handlung zu erzählen, wie bei einem Daumenkino ineinander schnurren! Dabei lassen sich die beiden beim Choreografieren von Gefühlen inspirieren: von der Traurigkeit, die einen packt, obwohl alle rundherum gut drauf sind. In so einem Moment krallt eine der grauen Gestalten die Finger in die nackten Zehen, versenkt den Kopf im Brustkorb, scheint sich vor Seelenschmerz zu verknoten.
Die Gemeinschaft fängt auf
Aber auch das Gefühl von tiefem Vertrauen können Beat und Bewegung auf anrührende Weise ausdrücken: dann erklimmt ein Tänzer das zylindrische Bühnenelement. Behutsam biegt er seinen Körper durch die Metallreifen, stellt sich auf die oberste Kante, und lässt sich rückwärtsfallen, wissend, dass ihn die Gemeinschaft auffängt.Manchmal sind es auch nur kleine Schlenker, die klare Zeichen setzen: Eine kantige, scharfe Armbewegung signalisiert dem Gegenüber Abwehr, wellenweich schwingende Hände erlauben hingegen eine Annäherung.
Schockgefroren Im Handstand
Als "Mann vom Fach" setzt Serhat Said Perhad immer wieder Elemente des Breakdance ein, die zu den Höhepunkten in GREY zählen: Tänzerinnen, die im Handstand erstarren, wie schockgefroren oder Tänzer, die wirbeln wie ein Tornado. Manchmal zeigt sich darin das Bedürfnis, auszubrechen aus der Gruppe, quasi ein Out-Breakdance. Manchmal feuern die anderen Tänzer den Solisten an und motivieren ihn zu einem Extra-Propeller oder Überschlag.
Alles andere als Endzeitszenario
Eine wichtige Stütze ist die Lichtregie: im nüchternen Weiß eines Operationssaales, mutieren die Tanzenden zu Einzelkämpfern. Im Schein von wohligem Orange gibt es Platz für Sehnsüchte und Begegnungen.
Am Ende ist GREY alles andere als eine mausgraue, schlaffe urban-dance-performance, die ein Endzeitszenario skizziert. Dafür blitzen in den hochmotivierten neun Tänzerinnen und Tänzern viel zu viele Spektralfarben auf. Und an Ausdauer, Ausdruck und Kraft fehlt es auch keine Sekunde lang in dem immerhin 70-minütigen Stück.
Das Publikum pfeift und feiert GREY. Und vor lauter Begeisterung gibt’s beim johlenden Schlussapplaus noch ein paar wilde Breakdance-Soli auf der Bühne.
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