Eine Wahlfamilie: Sharon van Etten und ihre Band The Attachment Theory
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Neues Sharon van Etten Album: Midlife Melodien

Neues Sharon van Etten Album: Midlife Melodien

Die eigene Endlichkeit, Verantwortung für andere, Spaltung der Gesellschaft: Auf ihrem neuen Album "Sharon van Etten & the Attachment Theory" geht die US-Musikerin Sharon van Etten große Themen an. Und klingt dabei so frisch wie vielseitig.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Die Welt am Morgen am .

"Wer möchte für immer leben?" fragt Sharon van Etten in den ersten Sekunden ihres neuen Albums – nur um die große Frage gleich darauf lapidar abzutun: "Für immer Leben? Ist mir nicht wichtig!" Vielleicht, weil sie ahnt, dass erst die begrenzte Lebenszeit unserem Leben Struktur gibt. Uns zwingt, den Hintern hochzubekommen und zu schauen, dass wir das Leben führen, was wir führen wollen. Von daher ist tatsächlich Vorsicht geboten beim Wunsch nach Unsterblichkeit – an dem heute vielleicht nicht zufällig ausgerechnet diejenigen im Silicon Valley arbeiten, die das Leben nur in Zahlen fassen können.

Nichts könnte weiter entfernt sein von der Suche nach Erkenntnis im Durcheinander des eigenen Lebens, an der Sharon van Etten uns auch auf diesem Album wieder teilhaben lässt.

Und so ist es nur folgerichtig, dass der zweite Song vom "Afterlife" handelt, dem Leben nach dem Tod. Mit Anfang 40 stellen sich einfach andere Fragen als früher. "Bevor ich Mutter wurde, schrieb ich hauptsächlich über Herzschmerz und die ungesunden Beziehungen, in denen ich mich wiederfand,", erzählt Sharon van Etten bei The Forty Five. Als sie mehr Stabilität in ihrem Leben fand, hätten sich die Dinge, die ihr wichtig waren, geändert und damit auch die Botschaften, die sie in der Welt hinterlassen wollte. "Wenn man ein Kind großzieht, bekommt der Fakt, dass man sterblich ist, mehr Bedeutung, genau wie ein mögliches Ende der Welt oder der Klimawandel."

Die Band als Wahlfamilie

In einer Zeit, wo alle großen Namen des Pop-Business Einzelkünstler sind, von Taylor Swift bis Beyoncé, von Billie Eilish bis Kendrick Lamar, geht Sharon van Etten den entgegengesetzten Weg: Sie öffnet sich erstmals für eine Zusammenarbeit mit ihrer Tourband, adelt die Formation, die unter dem Namen "The Attachment Theory" firmiert, sogar im Albumtitel. Denn der lautet schlicht: "Sharon van Etten & the Attachment Theory".

"Ich finde es bemerkenswert, dass all diese unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund, aus unterschiedlichen Gegenden, mit unterschiedlichen Einflüssen und Erfahrungen sich gefunden haben und diese schöne Sache geschaffen haben", erzählt Sharon van Etten auf ihrem Youtube-Kanal. Darüber seien sie auch eine große Wahlfamilie: "Wir sind wie Geschwister. Wenn man mit jemandem reist, hebt das die Beziehung einfach auf eine andere Ebene."

Neue Ideen, neue Sounds

Zur neuen Offenheit trug auch Produzentin Marta Salogni bei. Endlich mal kein Mann am Mischpult, zudem jemand mit einem Erfahrungsschatz, der von Bon Iver über Björk bis zu Depeche Mode reicht. Das gab Sharon van Etten den Mut, loszulassen, Kontrolle abzugeben und Dinge auszuprobieren. Und so sind diesmal sehr viele Synthies zu hören und viele Lieder sind getragen von einem fast spirituell anmutenden Gesang. Sharon van Etten schreitet weiter voran auf ihrem Weg weg vom Indierock hin zu vielschichtigeren Klangästhetiken.

Mehr denn je trifft hier die Künstlichkeit von Synthiepop auf das Echtheitsversprechen von Gitarrensongs. Es mischen sich Wärme und Kälte, Erdiges und Hochglanz – mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte es diese Gegensätze nie gegeben. Das ist große Kunst, die uns immer stärker von Arbeit und Alltag Getriebene daran erinnert, dass es da ja noch mehr gibt als das reine Funktionieren, mehr als die Suche nach der perfekten Work-Life-Balance. Nämlich: Echtes Leben mit all seinen Fallstricken und Widersprüchen. Wir haben nur das eine – zeitlich begrenzte.

"Sharon van Etten & the Attachment Theory" ist am 07.02. bei Jagjaguwar erschienen.

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