"Infantile Idioten" nennt der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew westliche Politiker ziemlich undiplomatisch. Die Stimmungslage in Moskau entspricht also aktuell nicht gerade der Friedensbotschaft des orthodoxen Osterfests, das in Russland gerade gefeiert wurde. Der notorische Scharfmacher Medwedew zeigte sich empört über Planspiele in Paris, London und Washington, Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden und wetterte, niemand werde sich auf dem Capitol Hill, im Élysée-Palast oder in Dowing Street 10 "verstecken" können.
Als Reaktion auf angebliche "Drohungen und provokative Äußerungen" des Westens überprüft das russische Militär derzeit die Einsatzbereitschaft der taktischen Atomraketen, so eine offizielle Mitteilung des Verteidigungsministeriums. Die entsprechenden Übungen im Süden Russlands würden in "naher Zukunft" unter Beteiligung der Luft- und Seestreitkräfte stattfinden.
"Können nicht zulassen, dass Ukraine verliert"
Für den russischen Propagandisten Sergej Markow will Putin damit nicht etwa die Ukraine einschüchtern, sondern den französischen Amtskollegen Emmanuel Macron, der nicht ausgeschlossen hatte, dass Frankreich Soldaten in die Ukraine schickt: "Der Einsatz taktischer Atomwaffen gegen die Atommacht Frankreich verstößt nicht gegen das Völkerrecht", so Markow. Der Kreml versuche offenbar, die "aggressive" Rhetorik des Westens zu stoppen, dabei seien Drohungen "gar nicht nötig".
Kremlsprecher Dmitri Peskow bestätigte, vor allem von Macron, aber auch von den Briten und vom demokratischen Minderheitsführer im US-Repräsentantenhaus Hakeem Jeffries fühle sich Moskau verärgert. Jeffries hatte in einem CBS-Interview gesagt: "Wir können nicht zulassen, dass die Ukraine verliert, denn wenn das passiert, besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass Amerika in den Konflikt eingreifen muss – nicht nur mit unserem Geld, sondern auch mit unseren Truppen."
"Kreml wird seine Probleme nicht lösen"
Die neueste propagandistische Drohkulisse Putins erscheint selbst russischen Politologen wenig glaubwürdig. Die abermalige Debatte über einen Einsatz von Atomwaffen zeige deutlich, wohin Russland gekommen und was aus ihm geworden sei, so das düstere Fazit des Politikwissenschaftlers Andrej Nikulin [externer Link]: "Atomschläge in begrenztem Umfang werden nur zu einer vollständigen und entschiedenen Verurteilung durch die gesamte Menschheit führen, einschließlich Nordkoreas, der Taliban und des Kalifats und eine harte, nichtnukleare Antwort der NATO hervorrufen. Das heißt, der Kreml wird seine Probleme nicht etwa lösen, sondern die Situation verschlimmern und hoffnungslos machen. In unbegrenztem Ausmaß würde ein Atomkrieg den allgemeinen Selbstmord bedeuten, der auch nicht zum Sieg führen würde."
"Signal ist immer noch stark"
Etwas ernsthafter reagierte der Politologe Georgi Bovt auf Putins neueste Volte, allerdings hatte auch er viele Fragen: "Welches Gebiet soll für die Übung ausgesucht werden? Darüber hinaus hätte die Detonation eines solchen Sprengkopfs etwa die gleiche politische wie militärische Wirkung. Zunächst einmal im Hinblick auf die Reaktion Chinas und Indiens. Das wäre eine Katastrophe für die bilateralen Beziehungen zu ihnen. Anscheinend reden wir immer noch über Übungen mit den Trägerraketen [ohne Sprengköpfe] und das Einüben entsprechender Aktionen. Das gesendete Signal ist jedoch immer noch stark. Es wird wieder die Rede davon sein, dass Putin es nicht wagen wird, sie auf dem Schlachtfeld einzusetzen. Das sollten sie nicht glauben."
"Ehrlich gesagt kaum zu glauben"
Der im Exil lebende Politologe Anatoli Nesmijan macht sich über Putins strategisches Können eher lustig. Die NATO werde wohl kaum mit 100.000 Soldaten an die ukrainische Front eilen und gleichzeitig wichtige Flanken, wie etwa das Baltikum ungeschützt lassen [externer Link]: "Wenn der Kreml eine solche Situation herbeiführen könnte, wäre es ein wunderschönes Spiel, das eines politischen Lehrbuchs würdig wäre: Schon mit dem ersten Zug des Gegners brächten wir ihn in eine Position, der das unvermeidliche Schachmatt folgen würde. Aber für ein solches Spiel bräuchte es einen Großmeister im Kreml und Vollidioten in der NATO. Und ehrlich gesagt sind sowohl das erste als auch das zweite irgendwie kaum zu glauben."
Ein weiterer Blogger verwies darauf, dass die NATO gar keine Soldaten an die Front schicken müsse, ihre Luftwaffe und ihre Mittelstreckenraketen seien viel moderner als die russischen. Eher psychologisch argumentierte TV-Propagandist Alexander Kots: "Niemand wird taktische Atomwaffen gegen die Ukraine oder das NATO-Bündnis einsetzen. Aber lassen Sie sie sehen, dass Russland eine solche Möglichkeit hätte. Tatsächlich gibt es im Westen nur wenige Menschen, die diese rote Linie ernsthaft austesten wollen."
"Russland wird von den Toten auferstehen"
So ähnlich drückte es ein anderer russischer Polit-Blogger aus: "Es wird immer Leute geben, die ihren Finger in eine Steckdose stecken, um zu sehen, ob dort Strom fließt oder nicht. Manchmal stehen diese Leute an der Spitze großer Staaten." Es wurde über die "kontrollierte Eskalation" gefachsimpelt, die wohl nicht ganz so "kontrolliert" sei, und Mönche fühlten sich herausgefordert, einstige "Weissagungen" des 2022 verstorbenen orthodoxen Wanderpredigers Ephraim zu verbreiten, wonach Russland eines Tages "mit seiner wichtigsten Waffe" in den Krieg eingreifen werde. Der bis heute von Nationalisten verehrte Mönch soll der Welt "schwierige Jahre, die sogar für unseren irdischen Aufenthalt gefährlich werden könnten" prophezeit haben, spendete seinen Landsleuten jedoch Trost: "Russland wird von den Toten auferstehen und die ganze Welt wird überrascht sein."
"Mit Übungen fing alles an"
Russische Militärblogger beeilten sich, den Westen mit Hohn und Spott zu überziehen: "Die Ukrainer sagen ja immer, sie hätten keine Angst vor russischen Atomwaffen, weil diese angeblich verrostet seien und sowieso nicht mehr funktionieren. Okay, schauen wir sie uns an." Rechtsaußen Igor Skurlatow hielt die Aussicht auf einen dritten Weltkrieg für "aufregend" und zeigte sich angesichts des orthodoxen Osterfests zuversichtlich, dass der Herr im Himmel Russland bei der "Auferstehung" schon irgendwie helfen werde.
Russische Leser meinten ironisch, es wäre besser, die Nuklear-Übungen innerhalb des Moskauer Gartenrings, also in der Innenstadt, durchzuführen statt im Süden Russlands. Auch "Manöver" für angemessene Renten oder zur Bekämpfung der Inflation seien allemal angemessener: "Mit Übungen fing alles an und offenbar wird es damit auch enden", kommentierte ein Diskutant, darauf anspielend, dass Putin und seine Gefolgsleute unmittelbar vor Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 den Aufmarsch als "Manöver" getarnt hatte. Der eine oder andere wollten es sich bereits mit einer guten Zigarre und einer Flasche Wodka auf dem Dach gemütlich machen, um das "Ende vom Ende" heraufziehen zu sehen, wenn dem Kreml nur noch taktische Atomwaffen blieben.
Benzin wird knapp
Unterdessen meldete das US-Wirtschaftsportal Bloomberg, dass sich Putins wirtschaftliche und demographische Probleme erheblich verschärfen. So fehlten der Öl- und Gasindustrie wegen des Krieges bereits jetzt rund 40.000 Arbeitskräfte. Wirtschaftsfachmann Igor Lipsitz bemerkte [externer Link], der April sei der "schwächste Monat" seit langem gewesen, was russische Heizöl- und Schiffsdiesel-Exporte betreffe. Die Ausfuhr von Benzin ist seit 1. März ganz verboten. Grund dafür: Die Knappheit im eigenen Land nach Drohnenangriffen der Ukraine auf Raffinerien.
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