Im September 2023 hält der russische Präsident eine Kerze
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Putin zu Besuch in einer Abtei in Nischny-Nowgorod

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Russischer Historiker über Putin: "Mittelalterliches Denken"

Russischer Historiker über Putin: "Mittelalterliches Denken"

Weil sich der russische Präsident in seinen Reden und Interviews ständig auf den Zweiten Weltkrieg bezieht, deutet einiges auf ein "zyklisches Denken" wie vor 1000 Jahren hin, so ein Experte: "Waren sie damals dumm? Nein, schauen Sie sich Putin an."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

In der Tat eine originelle Sichtweise, die der russische Historiker Konstantin Pachaluk in einem Fachmagazin über Putins Denkweise beisteuerte. Gefragt, warum der russische Präsident den Zweiten Weltkrieg offenbar immer noch als "Gegenwart" wahrnehme, antwortete der Fachmann: "Die Dominanz der neuen russischen Ideologie hat uns ein neues Mittelalter beschert. Damals dominierte eine zyklische Geschichtsauffassung, das heißt, man beschrieb aktuelle Ereignisse nach biblischen Vorbildern und machte subjektiv zu den eigenen Lebzeiten eine Wiederholung der biblischen Geschichte durch. Einen rational denkenden Menschen stürzt das in Verwirrung: 'Waren sie dermaßen dumm?' Nein, sie waren nicht dumm. Schauen Sie sich Putin an, die russische Ideologie. Es ist alles dasselbe. Das ist absolut mittelalterliches Denken, nur, dass sich laut Putin statt der biblischen Geschichte nun die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs wiederholen."

"In die Vergangenheit zurückgeworfene Politik"

Pachaluk war bis 2022 stellvertretender Direktor der Russischen Gesellschaft für Militärgeschichte. Er vertrat die Ansicht, dass der Streit um die Vergangenheit in dem Moment beendet sei, in dem Putin aufhöre, die Geschichte zu "politisieren" und ihre Erforschung den Historikern überlasse. Anders der Propagandist Sergej Markow, der in dem Gespräch sagte: "Das ist unmöglich. Die Welt ist vom Kampf um wirtschaftliche Ressourcen in eine neue Phase übergetreten – den Kampf um die Identität der Menschen. Daher wird sich der Krieg um die Geschichtsdeutung immer weiter verschärfen. Geschichte ist in die Vergangenheit zurückgeworfene Politik."

"Immer noch gewisser Spielraum"

Klar, dass dieser skurrile Meinungsaustausch ironische Kommentare zur Folge hatte. "Jetzt sprechen sie bereits Klartext und erläutern deutlicher als je zuvor, dass unsere Zukunft die mittelalterliche Vergangenheit ist", so Exil-Politologe Anatoli Nesmijan: "Es gibt aber immer noch einen gewissen Spielraum – denken Sie daran, dass der Vorsitzende des russischen Verfassungsgerichts, Waleri Sorkin, bereits 2014 (also vor zehn Jahren) die Leibeigenschaft als 'das wichtigste Band, das die Einheit der Nation zusammen hält' bezeichnete." Offenbar habe Putin vor, die Macht zu "privatisieren", spottete Nesmijan, und sie wie im Mittelalter seinen Nachkommen zu vererben.

Was die Leibeigenschaft betrifft, hatte der so gescholtene oberste russische Richter Sorkin 2014 lediglich den Publizisten und Dichter Nikolai Nekrassow (1821 - 1878) zitiert, der tatsächlich geschrieben hatte, mit dem Ende der Leibeigenschaft im Jahr 1861 sei eine "große Kette" zerborsten und habe mit dem einen Ende ihrer Glieder den Herrn, mit dem anderen den Bauern getroffen: "Das zerstörte die bereits merklich geschwächte Verbindung zwischen den beiden wichtigsten sozialen Klassen der Nation – dem Adel und den Bauern."

"Rückkehr in die Kindheit"

Politologe Ilja Graschtschenkow steuerte eine Art "Psychoanalyse" zur Mittelalter-Debatte bei. Viele ältere Russen sehnten sich nach der Sowjetunion zurück, aber nicht etwa nach der, die tatsächlich 1991 untergegangen sei, sondern nach derjenigen, an die sich erinnerten - ohne Bezugsscheine, kalte Wohnungen und "verbotene" Militärstädte: "Es geht weniger um eine Rückkehr ins Mittelalter als vielmehr um eine Rückkehr 'in die Kindheit'. Auch die Kindheit ist von einer Politik der Vereinfachung geprägt. Hier sind die Guten, dort sind die Bösen. Es handelt sich also nicht um ein 'neues Mittelalter'."

Die mittelalterlichen Menschen seien sich ihrer Ära natürlich im Allgemeinen nicht bewusst gewesen, eingerahmt von Antike und Renaissance: "Wir wissen ja auch nicht, wie Historiker später unsere seltsamen Zeiten mal nennen werden. Wie man so schön sagt: Wir stehen an der Weggabelung. Das Mittelalter war immerhin eine Zeit des Aufbaus neuer Institutionen – der großen kirchlichen Gemeinschaften, sowohl im christlichen Abendland, als auch im Rest der Welt [wo zum Beispiel der Islam entstand]. Unwissenheit wurde durch Glauben ausgeglichen. Jetzt ist das etwas anders."

"Wir müssen alle wie sie werden"

Dass Putin selbst sich geistig dem Mittelalter hingebe, sei ja noch verständlich, meinte ein weiterer Blogger. Immerhin profitiere er in gewisser Weise von der Regel des "Erstgeburtsrechts", also einem Aufstieg in die Kreml-Hierarchie nach Lebensalter. An der Spitze herrsche dank der Unterdrückungsmaßnahmen bekanntlich völlige Handlungsfreiheit. Warum allerdings der Mittelbau der Generation der 55-jährigen ähnlich denke, sei "absolut unverständlich".

Die Chefredakteurin des Propagandasenders RT, Margarita Simonjan, beteiligte sich unfreiwillig an der Debatte um Putins Hang zum "Reenactment" vergangener Zeiten. Sie forderte ihre Landsleute im Fernsehen dazu auf, sich wie die Eingeschlossenen des damaligen Leningrad in den Jahren 1941/44 zu fühlen: "Sie mussten sich – hungrig, eingefroren – zwingen, aus ihrem Bett aufzustehen, und doch haben sie es geschafft, die Front mit allem Nötigen zu versorgen. Wir müssen alle darüber nachdenken und ein bisschen wie sie werden. Jeder an seinem Platz."

"Politisches Handeln bekam einen neuen Sinn"

Das mittelalterliche Geschichtsdenken drehte sich nach Einschätzung renommierter Historiker tatsächlich um die Bibel, wie Pachaluk demnach zutreffend bemerkte. Alle zeitgenössischen Ereignisse wurden als "Heilsgeschichte" im christlichen Sinne ausgelegt. Heiligenlegenden waren folgerichtig das beliebteste Arbeitsgebiet, wie der deutsche Geschichtsprofessor Otto Herding (1911- 2001) in einem Aufsatz aus dem Jahr 1967 erläuterte: "Die Bibel war, wo man sich theoretisch auf die Geschichte besann, unumgänglich." Interessant dabei: Damals wurden die Weltreiche und Zeitalter vom goldenen bis zum eisernen in absteigender Reihenfolge aufgezählt, Geschichte also als Niedergang empfunden.

Verblüffend, wie aktuell sich Herdings Bestandsaufnahme im Hinblick auf Putins Reden und Interviewäußerungen liest: "Was ist die Konsequenz aus alledem? Das politische Handeln bekam einen neuen Sinn. Was war es in mittelalterlicher Deutung? Immer die Wiederherstellung eines gestörten Rechtszustandes, Ruhezustandes. Das galt gewiss auch für den Kreuzzug."

"Schlüssel zum Verständnis der Seele"

Putin hatte kürzlich in einem Gespräch mit dem umstrittenen US-Journalisten Tucker Carlson ausführlich auf die russische Geschichte seit dem frühen Mittealter Bezug genommen, was Beobachter in West wie Ost wegen der Ausführlichkeit irritiert hatte. Im vergangenen September hatte der russische Präsident bei einem Besuch in der 1221 gegründeten Hansestadt Nischni Nowgorod ("Untere Neustadt") gesagt: "Nischni – wie die Stadt seit langem liebevoll und herzlich genannt wird – ist der Schlüssel zum Verständnis der Weite der Seele, des Glaubens und des unnachgiebigen Willens unseres Volkes, seines Wunsches nach Schöpfung und Zusammenarbeit. Der kulturelle Code, die nationale Identität, die Macht und das Ausmaß des russischen Volkes sind hier buchstäblich konzentriert."

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