Der zweite Jahrestag von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar wurde in den wichtigsten russischen Staatsmedien ignoriert. "Das Thema ist toxisch geworden, deshalb erwähnen sie es nicht mehr", meinte dazu der im Exil lebende Politologe Anatoli Nesmijan (112.000 Fans): "Es ist eine Sache, eine endlose Chronik über den Kriegsverlauf selbst fortzuschreiben und aufkommende Fragen nach den tatsächlichen Ergebnissen im Detail laufend zu beantworten, und eine andere Sache, nach zwei Jahren Bilanz zu ziehen. Es ist nicht verwunderlich, dass [vom Kreml] der vorsichtigste Ansatz gewählt wurde. Kein Datum – keine Fragen."
Der kremlnahe Propagandist Sergej Markow stimmte dieser Einschätzung überraschend zu: "Nun ja, es ist ihnen wohl nichts dazu eingefallen." Ein paar Stunden später verschärfte der sehr aktive Blogger seine Kritik sogar: "Die Medien müssen immer die Fragen beantworten, die die Menschen gerade beschäftigen. Wenn Sie nicht wissen, was Sie sagen sollen, sagen Sie ihnen einfach die Wahrheit. Die Leute werden Sie verstehen. Das ist die Hauptsache. Aber Sie können bei der Beantwortung der drängendsten Fragen nicht schweigen." Angeblich waren sogar einige Kreml-Insider, wie etwa der mächtige Sekretär des Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew, aufgebracht, dass die TV-Sender das heikle Thema vermieden.
"In naher Zukunft unerreichbar"
Allerdings verfasste Ruslan Puchow, der Direktor des Zentrums für Analyse von Strategien und Technologien, für den Russian Council, der Interessenvertretung der russischen Diplomaten, eine aufschlussreiche Bestandsaufnahme. Dort ist zu lesen, die gegenwärtige Situation sei mit dem Patt im Koreakrieg (1950 - 1953) vergleichbar: "Der Stellungskrieg kann entweder durch einen starken Truppenaufbau zur Erlangung einer mehrfachen zahlenmäßigen Überlegenheit gegenüber dem Feind oder durch militärisch-technische Überlegenheit überwunden werden – vor allem durch eine deutliche Steigerung der Anzahl und des Potenzials hochpräziser Waffen. Beides dürfte für beide Seiten in naher Zukunft unerreichbar sein."
Das mache einen "langwierigen Krieg mit relativ stabilen Fronten im Stile des Korea- oder Iran-Irak-Krieges" (1980 - 1988) unausweichlich: "So ein Krieg wird jahrelang bis zur Erschöpfung geführt, nicht in der Hoffnung, den Feind zu Kompromissen zu zwingen, sondern in Erwartung innerer Veränderungen bei ihm, die zu einer Änderung der politischen Position führen werden." Putin setze auf die US-Wahlen, also einen möglichen Wahlsieg von Donald Trump, und eine Stärkung seiner eigenen militärischen Position bis 2025. Der Westen habe sich offenbar vorgenommen, die Zeit nach Putin abzuwarten.
"Nicht triviale Aufgabe"
Puchow fürchtet angesichts des Patts an der Front in nächster Zeit sehr viel mehr zivile Opfer, weil beide Seiten jeweils auf das Hinterland des Gegners zielten. "Die russischen Ressourcen sind beträchtlich, aber die bloße Steigerung der Produktion und Reparatur veralteter Panzer, Artilleriesysteme und Granaten wird keinen militärischen Erfolg garantieren, sondern nur dazu führen, dass der Krieg zu einem Dauerkrieg wird, der viele Jahre lang enorme Ausgaben für das Volksvermögen nach sich zieht, mit negativen sozioökonomischen und innenpolitischen Folgen", so dass überraschende Fazit des kremlnahen Fachmanns.
Nur, wenn es dem Kreml gelänge, den Drohnenkrieg zu gewinnen, also sehr schnell eine Überlegenheit bei unbemannten, hochpräzisen Waffen zu erlangen, sei ein Sieg vorstellbar: "Das ist sowohl aus technologischer als auch aus militärisch-industrieller Sicht eine nicht triviale Aufgabe. Es ist unwahrscheinlich, dass Russland mit wohlfeilen und halbherzigen politischen, militärischen und industriellen Lösungen vorankommen wird. Am 24. Februar 2022 begann der radikale 'Stresstest', den das System bis zum Ende durchstehen muss."
"Selenskyjs Position könnte sehr instabil werden"
Exil-Politologe Wladimir Pastuchowv (149.000 Abonnenten), der in London unterrichtet, wagt einen paradoxen Ausblick. Einerseits sei die Bilanz nach zwei Jahren Krieg positiv für die Ukraine: "Es ist nicht angebracht, an die verlorenen, sondern an die verteidigten Territorien zu denken. Messen Sie sich nicht an dem, was geschehen ist, sondern an dem, was verhindert wurde. Der Blitzkrieg ging fehl, die Regierung wurde nicht zu einem kremltreuen Regime umgebaut, es gab kein Neurussland von Transnistrien bis Mariupol [entlang der Schwarzmeerküste]. So hoch die territorialen, menschlichen und wirtschaftlichen Verluste der Ukraine auch sein mögen, sie sind nur der Preis, der dafür gezahlt werden musste, dass Russland keines der Kriegsziele erreichen konnte."
Andererseits freilich gebe es auf beiden Seiten eine "Kriegsmüdigkeit" und Russland habe personell größere Ressourcen: "Der Ermüdungsfaktor und der Trend zur Verringerung des Umfangs der Unterstützung von außen machen es sehr wahrscheinlich, dass die Ukraine in Zukunft mit Russland einen Waffenstillstand aushandeln muss, ohne die erklärten Ziele – die vollständige Befreiung aller besetzten Gebiete – zu erreichen. Sollte dies geschehen, würde Selenskyjs politische Position sehr instabil werden. Angesichts dieser Erkenntnis unternimmt Selenskyjs Team alles, um diesen Moment hinauszuzögern." Genau das sei hochriskant, denn die Ukraine könne dadurch den für sie idealen Zeitpunkt für Verhandlungen verpassen.
"Warum war Beschleunigung der Geschichte nötig?"
Einer von Russlands meist zitierten Politikwissenschaftlern, Wladislaw Inosemtsew, gibt sich sehr skeptisch, was Putins Perspektiven betrifft. Die besetzten Gebiete im Donbass seien so schlecht verwaltet und dermaßen zerstört, dass dort ein "normales Leben fast unmöglich" sei: "Russland hat die [Eroberung der] Region höchstwahrscheinlich mit Zehntausenden von Menschenleben bezahlt, ist dazu verdammt, sie noch viele Jahre lang mit Subventionen am Leben zu erhalten, und hat dann immer noch keine Chance, sie zu ihrem einstigen Erfolg zurückzuführen. EM-Spiele werden nie mehr in der Donbass Arena stattfinden."
Inosemtsew ist verblüfft, dass Putin 2022 nicht auf eine Strategie der "Destabilisierung" der Ukraine gesetzt hat, ohne Waffen, aber mit wirtschaftlichem und diplomatischem Druck. Damit, so der Politologe, hätte der Kreml vermutlich auch seine Ziele erreicht, allerdings langsam, über einen Zeitraum von etwa sieben Jahren: "Warum war eine 'Beschleunigung der Geschichte' notwendig, die so schnell erfolgte? Es scheint, dass es dafür nur einen Grund gab: das Gefühl der russischen Führung, dass die ihr verbleibende Zeit begrenzt ist. Nicht im übertragenen Sinne, sondern rein physiologisch: Die alten Kreml-Leute wollten mit eigenen Augen den historischen 'Sieg über den Westen' erleben, von dem sie so sehr geträumt hatten."
"Nicht möglich, dauerhaft mit maximaler Leistung zu arbeiten"
Nicht wenige russische Blogger befürchten, dass die mehr oder weniger statische Front ähnlich verhängnisvolle Konsequenzen haben könnte wie im Jahr 1917, als eine Revolution folgte: "Die Frage ist, wie lange die Kriegswirtschaft durchhält, denn es wird nicht möglich sein, dauerhaft mit maximaler Leistung zu arbeiten." Der Politikberater Alexander Semenow hielt es für "äußerst schwierig", den weiteren Kriegsverlauf vorherzusagen, weil der Westen auf das Konzept des "unheroischen" Krieges setze, ein Verweis auf einen berühmt gewordenen Essay von Edward N. Luttwak vom Center for Strategic and International Studies aus dem Jahr 1995 (Toward Post-Heroic Warfare). Gemeint war damit eine indirekte Konfrontation zwischen Großmächten, die zunehmend auf Stellvertreterkriege und den Einsatz von offenen und verdeckten Mittelsmännern setzten. "Die Geschichte zeigt, dass solche Konflikte lange andauern und aktive und passive Phasen durchlaufen können", so Semenow.
Der nationalistische Kreml-Fan Pjotr Akopow argumentierte, Putin habe 2022 tatsächlich nur eine schnelle "Spezialoperation" gegen Kiew geplant, sei jetzt allerdings genötigt, Russland sehr viel grundlegender umzubauen als gedacht, auch die Eliten: "Heißt das etwa, es stellt sich heraus, dass das, was Putin vor zwei Jahren wollte, viel weniger groß angelegt und schicksalhaft, blutig und heroisch sein sollte als das, was passiert ist und was noch kommen wird? Ja – einfach, weil halbherzige Maßnahmen nicht mehr ausreichen, sie funktionieren nicht. Nachdem wir A gesagt haben, müssen wir zu B kommen. Gott sei Dank? Ja, obwohl der Preis hoch sein wird und es viel Zeit in Anspruch nehmen wird, haben wir keinen anderen Weg zu unserer Erlösung."
"Errungenschaften des russischen Chefstrategen"
Damit löste Akopow heftigen Widerspruch aus. So schrieb ein Kommentator: "Anstatt den Schaden und die Zerstörung anzuerkennen, die dieser Krieg angerichtet hat, versuchen Sie, ihn mit mythischen Plänen und Absichten zu rechtfertigen. Ihre Worte liefern nicht nur keine objektive Analyse der Situation, sondern ignorieren auch den Schmerz der einfachen Menschen, die unter diesem Krieg leiden." Dagegen fand der in Russland sehr bekannte Rechtsextremist und "Philosoph" Alexander Dugin die Analyse von Akopow "sehr richtig", hoffen die Ultrapatrioten doch auf stalinistische Zustände, allerdings ohne "Sozialismus", dafür mit orthodoxem Fundamentalismus.
Mit bewundernswertem Mut war bei einem der Blogger folgende Aufzählung der unmittelbaren Kriegsfolgen zu lesen: Ein Anstieg der Sterblichkeit durch die vielen Gefallenen, eine demografische Krise durch den dramatischen Geburtenrückgang, eine Spaltung der Gesellschaft durch die florierenden Denunziationen, die Isolation in der Weltgemeinschaft, die Zerstörung der Wirtschaft, die "vollständige Demilitarisierung" durch versenkte Schiffe und abgeschossene Flugzeuge, die weltweit unerreichte Strafbarkeit von Pazifismus: "Wenn das nicht die Errungenschaften des russischen Chefstrategen sind, was dann?"
"Wende deinen Blick nicht vom Spiegel ab"
Der Kremlpropagandist Andrej Medwedew (175.000 Fans), nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen russischen Ex-Präsidenten, nannte den 2. Jahrestag des Angriffskriegs ein "willkürliches Datum" und fügte an: "Es wird Fehler geben. Es wird Schmerzen geben. Wir werden wichtige Dinge nicht rechtzeitig erledigen und uns dann selbst korrigieren. Wir werden für die Gefallenen beten und wir werden beten, dass der Herr unseren Soldaten hilft. Es wird Tage der Siege geben. Es wird der Tag des Sieges kommen. Es ist noch ein langer Weg. Aber wir haben keine Optionen."
Unfreiwillig komisch verwies Medwedew auf die Sowjetunion: "Erinnern Sie sich, es gab ein solches Land, die UdSSR, an das weder die Armee, noch der KGB, noch die Partei glaubten? Und jeder mochte amerikanische Filme und Jeans, und die Medaillen des Großvaters wurden gegen Videorecorder eingetauscht? Wende deinen Blick nicht vom Spiegel ab. So war es bei uns." Ein besonders treffliches Beispiel dafür, dass nicht wenige Russen die "verlorenen Schlachten" der Vergangenheit ausfechten bzw. den Westen für ihre eigenen Frustrationen verantwortlich machen.
"Chinesen haben die meisten Kriege verloren"
Politologe Konstantin Kalaschew leistete sich nach zwei Jahren Krieg ein Quäntchen Humor: "Wenn der Ausgang und die langfristigen Folgen von Kriegen vorhersehbar wären, würden alle Kriege aufhören. Selbst Siege können bekanntlich zur Katastrophe führen, warnte schon König Pyrrhos von Epirus (ca. 319 - 272 vor Chr.), den [der berühmte antike Feldherr] Hannibal und die Römer als besten Heerführer seiner Zeit betrachteten. Die Mongolen haben Schlachten gewonnen, die Chinesen haben die meisten ihrer Kriege verloren, aber China ist die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt."
Während die Chefredakteurin des Propagandasenders RT, Margarita Simonjan, nach eigenen Worten bereits den Champagner für die Siegesfeier kaltgestellt hat, warnte der russische Politologe Ilja Graschtschenkow sehr ironisch vor übereiltem Triumphgeheul: "Die Welt im Allgemeinen wartet immer auf einen Messias. Nur wenige sind allerdings bereit, sich an seinem bevorstehenden Kommen zu beteiligen, und die Aktivisten werden von der jeweils herrschenden Regierung stets als Aufrührer unterdrückt. Daher ist wohltuende Passivität seit jeher eine Alternative und hat sich stets ausgezahlt." So könnten diejenigen, die einfach abwarteten, sich in Ruhe über die "Reste" untergegangener Systeme hermachen, wenn es denn soweit sei. Graschtschenkow empfahl in diesem Zusammenhang die Lektüre von J.R.R. Tolkiens weltbekannter Saga "Herr der Ringe", wo keineswegs nur die Guten die Welt retteten, sondern manchmal auch die "Bösen": "Passivität bleibt eine lohnende Investition."
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