Seit 2020 ist Sasha Filipenko, 1984 in Minsk geboren, aus politischen Gründen im Exil. In seiner Heimat, in der sich der ewige Präsident an diesem Wochenende wiederwählen lässt, drohen dem Schriftsteller, wie vielen anderen seiner Kolleginnen und Kollegen, Verfolgung und Verhaftung. In "Der Schatten einer offenen Tür" richtet Filipenko einmal mehr den Blick auf das große Nachbarland von Belarus, auf Putins Russland.
Die Frage nach den guten Taten
Ein Kommissar wird in eine gottverlassene Kleinstadt weit entfernt von Moskau geschickt. Dort nehmen sich einige Jugendliche aus einem Waisenhaus das Leben. Einen solchen Fall gab es tatsächlich in Russland, erzählt Sasha Filipenko im BR-Interview. Mehrere befreundete Journalisten hätten ihm – unabhängig voneinander – davon erzählt. Er wollte dem auf dem Grund gehen und entdeckte: "Das ist ein interessantes Sujet, um der Frage nach den guten Taten nachzugehen. Ein reicher Mann hielt es für eine gute Tat, ein Flugzeug zu chartern und Waisen- und armen Kinder einen Urlaub am Meer zu spendieren. Nach einer Weile begann unter diesen Kindern eine Suizid-Serie."
Alexander Koslow, Kriminalkommissar, Tschetschenienkriegs-Veteran, von einer Angina gezeichnet und von seiner Frau verlassen, soll die Fälle aufklären. Widerwillig fährt er nach Ostrog, den Schauplatz des Romans "Der Schatten einer offenen Tür". Seine Kapitel werden Gesänge genannt – und erinnern damit auch an die Odyssee. Und eine solche erlebt Koslow auch, er wird selbst ein Irrfahrer.
Eine Tragödie aus unserer Zeit
Sasha Filipenko sagt, er wollte zudem die griechische Tragödie in die Gegenwart überführen – und damit auch in einen Kriminalroman. Immer wieder verwendet er in seiner Prosa ungewöhnliche Erzähl-Konstruktionen. Das Spiel mit den literarischen Formen finde er interessant.
"Zudem muss man heute als Schriftsteller in der Lage sein, die Leserinnen und Leser nicht nur hinter dem Ofen, sondern auch hinter den Bildschirmen und Displays hervorzulocken. Wenn man ihnen schwere Themen auftischt, bleiben sie vermutlich lieber bei der oberflächlichen Berieselung. Ich muss sie neugierig machen."
Ein einsamer Freiheitskämpfer
Der Roman "Der Schatten einer offenen Tür" erzählt von der erbarmungslosen Realität in einem autokratischen Staat. Sasha Filipenko hat lange auch in St. Petersburg und in Moskau gelebt und dort als Schriftsteller und Journalist gearbeitet. Immer wieder beschäftigt er sich in raffiniert konstruierten, tiefgründigen Romanen mit Geschichte und Gegenwart in Putins Russland.
Die Wirklichkeit zeigt sich am Schicksal der Waisenkinder. Ebenso an dem von Petja Pawlow, der anderen zentralen Figur in "Der Schatten einer offenen Tür". Petja, aus Ostrog stammend, ist selbst im Waisenhaus aufgewachsen. Als Erwachsener beweist er soziales Engagement und setzt sich für den Umweltschutz ein. Einsam protestiert er gegen den Bau einer Fabrik und damit gegen einen mächtigen Oligarchen. "Er setzt sich für die Freiheit ein", sagt Sasha Filipenko.
Ein Land voller Gewalt und Verrohung
Die Polizei in Ostrow behauptet, Petja sei verantwortlich für die Suizide. Der unbequeme Idealist ist ein willkommener Sündenbock. Er kommt ins Gefängnis und wird dort brutal gefoltert. Alexander Koslow wiederum verwirft diese Theorie und ist von Petjas Unschuld überzeugt. Aus gutem Grund, wie der Roman von Sasha Filipenko zeigt.
Die Geschichte durchziehen diverse russische Songs und Gedichte, von Pussy Riot oder auch von Wera Poloskowa: Reflexionen über die Gegenwart in einem autoritären Staat. "Nur am Wochenende zum Geldautomaten / lassen sie uns aus den Vollzugsanstalten", heißt es etwa in einem Gedicht von Wera Poloskowa, die heute im Exil lebt. Unter der Oberfläche eines Kriminalromans eröffnet sich eine feinsinnige philosophische Reflexion über ein Land voller Verheerung, Verrohung und Gewalt. Es wird klar, warum diese Odyssee nicht mit einer geglückten Heimkehr des Irrfahrers enden kann.
Sasha Filipenkos Roman "Der Schatten einer offenen Tür" ist – aus dem Russischen übersetzt von Ruth Altenhofer – bei Diogenes erschienen.
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