Zwei Oscars, drei Emmys, fünf Golden Globes, sowie ein Tony und ein Screen Actors Guild Award – Jessica Langes Trophäensammlung kann sich sehen lassen und zeugt unverkennbar von ihrem schauspielerischen Talent. Damit ist sie eine der wenigen Schauspielerinnen, die die sogenannte "Triple Crown of Acting" innehat: Lange gewann den jeweils höchsten Preis in den Bereichen Film (Oscar), Serie (Golden Globes) und Theater (Tony Award). Bei ihrem ausdrucksstarken Spiel überrascht das kaum. Diesem setze sie spätestens in der 2011 erschienen Anthologie-Serie "American Horror Story" die Krone auf.
Spiel der Stereotype
Ihr Triumphzug auf Bühnen, Leinwänden und im Fernsehen war jedoch alles andere als absehbar. Durch ihr Studium der Kunst und Fotografie hatte sie zwar den ersten intensiven Kontakt mit der Welt der Künste, der Wechsel ins Schauspielgewerbe folgte aber erst einige Zeit – und einem vorzeitigen Ende des Studiums – später.
Nachdem sie zunächst als Frau in Nöten in einer Neuverfilmung von "King Kong" aufgetreten war, machte sie sich die Rolle der Verführerin zu eigen; man denke etwa an "Sweet Dreams" oder "Tootsie". Ihr zu unterstellen, sie würde sich deshalb dem sogenannten männlichen Blick der Zuschauer unterordnen, geht aber am Ziel vorbei. Viel eher ist sie es, die sich der Macht des Angeblicktwerdens bewusst ist und damit spielt: Selbst, wenn die Männer in den Filmen teilweise im Fokus stehen, so ist es Lange, die am Ende die Fäden zieht – das Patriarchat liegt ihr zu Füßen. Gegen das Patriarchat beziehungsweise gegen sexuelle Gewalt engagiert sie sich seit mehreren Jahren ehrenamtlich für Unicef und leistet wichtige Aufklärungsarbeit.
Frauen(figuren) am Rande des Nervenzusammenbruchs
Bekannt ist Lange aber allen voran für ihre Figurenwahl. Die stereotype "unschuldige" Frau verkörperte sie nur in den seltensten Fällen. Viel eher reizten sie komplexe Charaktere, die oft dem Wahnsinn nahe sind. Entscheidend für diesen Image-Wandel war der Regisseur und Choreograf Bob Fosse, der sie für seinen Film "All that Jazz" castete. Darin verkörpert sie den Engel des Todes, dem der Protagonist Joe Gideon in seinen Träumen begegnet. Auf den ersten Blick wirkt sie in ihrem Auftreten als blonder Engel im weißen Kleid wie die leibhaftige Madonna. Doch hinter dieser Oberfläche offenbart sich ihre wahre Natur als Inkarnation des todbringenden Sensenmannes, der Gideon letzten Endes in den Ruin treibt.
Während in "All that Jazz" noch der Protagonist dem Wahn verfiel, übernahm die Schauspielerin spätestens in "Frances" selbst diesen Part. Dort gerät die titelgebende Figur in die Mühlen des Studiosystems und geht daran zugrunde. Oder auch in "Operation Blue Sky", der 1995 beim Filmfest München zu sehen war. Dort verkörpert sie die psychisch labile Ehefrau von Tommy Lee Curtis, die sich einer Affäre hingibt – ähnlich wie bereits einige Jahre zuvor in "Wenn der Postmann zweimal klingelt". Daher überrascht es nicht, dass Jessica Lange für ihre stetigen schauspielerischen Kraftakte mehrfach ausgezeichnet wurde und dass Regisseure wie Martin Scorsese, Wim Wenders oder Jim Jarmusch mit ihr drehten.
"American Horror Story"
Ein gänzlich neues Publikum erschloss sich Lange aber erst in einem Alter, in dem andere an den Renteneintritt denken. Einer der wichtigsten Showrunner der Gegenwart, Ryan Murphy, besetzte sie 2011 in seiner neu geschaffenen Serie "American Horror Story". Der besondere Reiz der Show liegt darin, dass sie als Anthologie konzipiert ist: Die Staffeln bauen nicht aufeinander auf, sondern erzählen in sich abgeschlossene Geschichten. Bei "American Horror Story" blieben die Darsteller aber weitestgehend auch bei den nachfolgenden Seasons mit an Bord – unter anderem Jessica Lange.
Diese avancierte bereits nach kurzer Zeit zum absoluten Fan-Liebling, was mit Sicherheit auch an ihren jeweiligen Rollen lag: Ob sadistische Nonne in "AHS: Asylum" oder mordende "Freakshow"-Direktorin in der gleichnamigen Staffel – und das ist nur die Spitze des Eisbergs des Kuriositätenkabinetts. Sie alle eint, genau wie viele weitere der Charaktere in Langes Filmografie, eine eigenwillige Ambivalenz. Denn gänzlich böse ist keine ihrer Figuren, eher vom Schicksal gezeichnet. Und vor allem sind sie für eines bekannt: Sie ziehen die Blicke und das Interesse der Zuschauer auf sich – so schließt sich der Kreis zum Frühwerk.
Rückkehr zu den Wurzeln
Kein Wunder also, dass auch Langes neuester Film "The Great Lillian Hall", den sie für das Filmfest München mit im Gepäck hat, eine ähnlich komplexe und ambivalente Figur ins Zentrum rückt. Darin verkörpert sie Lillian Hall. Der alternde Broadway-Star hat mit kognitiven Einschränkungen zu kämpfen und sieht dadurch die eigene Zukunft auf den New Yorker Bühnen in Gefahr.
Doch obwohl Lange heute mit 75 Jahren deutlich weniger Filme als früher dreht und auch seit 2018 kein Teil mehr von "American Horror Story" ist, hat sie sich noch lange nicht zur Ruhe gesetzt. Im Gegenteil: Seit April kann man sie erneut am Broadway sehen. Und auch in ihrer Freizeit widmet sie sich seit einiger Zeit ihrer einstigen Leidenschaft. Zwar hat sie ihr Fotografie-Studium nie abgeschlossen, aber der Kunst ist sie stets verbunden geblieben. Während der Corona-Lockdowns 2020 zog es sie auf die menschenleeren Straßen New Yorks, die Lange mit ihrer Kamera ablichtete und für den Bildband "Dérive" zusammentrug.
Ab dem 2. Juli sind daraus ausgewählte Fotografien im Deutschen Theatermuseum in München zu sehen. Der Titel könnte nicht treffender gewählt sein, steht er doch für eine nicht planbare Reise; sich mitreißen lassen vom Strom des Alltags: genau wie Jessica Langes illustre Karriere.
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