"Die westlichen Politiker stehen vor der wenig beneidenswerten Aufgabe, herauszufinden, wie sie mit einem immer selbstbewussteren, mutigeren und radikaleren Russland umgehen sollen", so die Politologin Tatjana Stanowaja im US-Fachblatt "Foreign Affairs" [externer Link]. Ihrer Analyse zufolge ist die russische Elite geschlossen wie selten zuvor, Putin habe seine Stellung an der Spitze geschickt zementiert: "Anstatt zu zersplittern, werden die Eliten Russlands immer kriegerischer und marschieren im Gleichschritt mit dem Regime. Die russische Gesellschaft steht an der Seite des Staates und akzeptiert weitgehend Putins entschiedene Feindseligkeit gegenüber der Ukraine und dem Westen."
- Zum Artikel: "'Vorteil dummerweise nicht von Dauer': Kann Putin abwarten?"
Expertin: "Mit unerbittlichem Zugriff des Regimes abfinden"
Die Oligarchen hätten sich einen "Tunnelblick" angeeignet, so die Expertin. Sie hätten sich längst der Propaganda angepasst: "Die Wahrheit ist zweitrangig gegenüber den Fiktionen des Kremls." Daher machten einflussreiche Gesprächspartner aus Wirtschaft und Gesellschaft keinen großen Unterschied mehr zwischen "Islamisten", Ukrainern und Amerikanern – sie alle gefährdeten Russlands Führungsanspruch in der Welt gleichermaßen: "Es ist nicht so, dass die Eliten Putin vertrauen. Um zu überleben, müssen sie sich mit dem unerbittlichen, sich verschärfenden Zugriff des Regimes abfinden. Diejenigen, die gehofft hatten, diese Zeit der Unterdrückung und des Fanatismus einfach abzuwarten, erkennen nun, dass es kein Zurück mehr zum alten Zustand gibt."
Angst, nach einer Niederlage haftbar gemacht zu werden
Putin habe eine "beeindruckend homogene" Elite geschaffen. Niemand suche derzeit hinter den Kulissen nach Kompromissen: "Stattdessen gehen die russische Führung und die Eliten davon aus, dass Russland es sich nicht leisten kann, den Krieg zu verlieren, und um sicherzustellen, dass das nicht passiert, muss das Land den Druck auf die Ukraine aufrechterhalten, egal wie lange." Ein wichtiger Grund für den Durchhaltewillen der Mächtigen in Russland sei die Angst, nach einer Niederlage persönlich haftbar gemacht zu werden. Nur zwei Entwicklungen könnten diese Stimmungslage nachhaltig verändern: Ein Zusammenbruch der Wirtschaft oder schwere Fehlschläge an der Front.
Es gehe nicht um irgendwelche Gebietsgewinne Russlands in der Ukraine, Putin wolle dem Westen eine demonstrative politische Niederlage verpassen, dessen globale "Vorherrschaft brechen" – eine "Militärstrategie", die sich bei den Russen als "äußerst überzeugend" erwiesen habe.
Exil-Politologe: "Gesichtsverlust teures politisches Vergnügen"
Der russische Exil-Politologe Wladislaw Pastuchow fasst die seiner Meinung nach "ziemlich eigenartige" Lage so zusammen: "Ohne Gesichtsverlust ist eine Deeskalation nicht möglich, und Gesichtsverlust ist ein teures politisches Vergnügen, das sich nicht jeder leisten kann." Derzeit setzten alle Beteiligten auf eine Verbesserung ihrer Verhandlungsposition, aber gerade das könne einen "großen Krieg" auslösen.
So sei es nur eine Frage der Zeit, bis die Krimbrücke von ukrainischen Drohnen zerstört werde: "Dann wird der Kreml vor der Notwendigkeit stehen, eine Antwort zu finden, die in den Augen seiner eigenen Bevölkerung als ausreichender Beweis der Stärke anerkannt wird. Ich denke, dass die Szenarien für eine solche Reaktion längst ausgemacht sind. Höchstwahrscheinlich wird diese Antwort zu einer provozierenden und sogar schockierenden Zahl ziviler Opfer führen." Der Westen sei dann abermals in Zugzwang.
"Loyalität der Oligarchen enorm viel wert"
Auch der russische Politologe Wladislaw Inosemtsew verweist darauf, dass nicht wenige russische OIigarchen reumütig aus dem Ausland zurückkehrten: "Ihre Loyalität, um die Putin seit 2013 weitgehend vergeblich buhlte, ist enorm viel wert. In Russland haben sie jetzt und in Zukunft alles Nötige – sagt ihnen der Kreml – ihre heimischen Birken und ihre Unternehmen und den Schutz vor lästigen unabhängigen Gewerkschaften und eine geringe Steuerbelastung und keine Erbschaftssteuer: Hier können sie leben und verdienen! Natürlich mit dem gebührenden Respekt gegenüber Staat und Behörden."
"Westen machte Putin unbesiegbar"
Die Oligarchen hätten nach zwei Jahren Krieg begriffen, dass die Hand, aus der sie ihren Reichtum geschöpft hätten, ihnen diesen auch jederzeit wieder entwenden könne. Putins wichtigster Hebel sei die Drohung mit Verstaatlichung. In einem dermaßen autoritären System mache Besitz nicht "frei", sondern "versklave" seine Nutznießer in dem Sinne, dass sie sich zu Bütteln des Systems machen müssten.
Der Westen sei an dieser Willkür nicht unschuldig, er habe zwei gravierende Fehler gemacht: "Zuerst, als er die unfaire Privatisierung [nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion] befürwortete, die Eigentümer hervorbrachte, die ihr Vermögen nicht von Grund auf selbst geschaffen hatten; zweitens, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass all diese Leute korrupte Beamte und Handlanger des Kremls waren, schickte er sie ohne zu zögern an wenig verlockende Orte [in Gefängnisse]. Beide Schritte machten die autoritäre Regierung Russlands nicht nur stärker, sondern praktisch unbesiegbar."
Inosemtsew erinnerte daran, dass aktuell die gigantischen Vermögen der Oligarchen von der ersten auf die zweite Generation übertragen werden müssen, weshalb Putin leichtes Spiel habe. Für Auslandsrussen gibt es eine Erbschaftssteuer von 30 Prozent, Inländer bezahlen dagegen nichts.
Bloomberg: "Reichtum hängt von informellen Garantien ab"
So argumentierte auch der US-Newsdienst "Bloomberg" [externer Link]. Russische Oligarchen fühlten sich im Ausland nicht mehr sicher. Daheim zwar auch nicht, aber der "Grad der Unvorsehbarkeit" sei in Russland geringer, weil das Regime seinen Anhängern vermeintlich attraktive Angebote mache. So sei es neuerdings möglich, den Reichtum in "privaten Stiftungen" zu parken oder Konzerne steuergünstig auf Offshore-Inseln im russischen Fernen Osten oder vor Kaliningrad zu registrieren. Die ehemalige "Rechtssicherheit" im Ausland sei seit den Sanktionen auch kein Argument mehr, das Geld im Westen zu lassen.
"Es geht jedoch nicht nur um Gesetze und Gerichtsbarkeiten. Russland zeichnet sich dadurch aus, dass das Geschäftsumfeld von informellen Vereinbarungen und Garantien abhängt, die sich unter Putin entwickelt haben", so die Bestandsaufnahme von "Bloomberg". Gute Beziehungen zum Kreml seien unabdingbar, um Beschlagnahmungen zu vermeiden. Solche nützlichen Kontakte seien im Inland logischerweise leichter zu bewerkstelligen.
"Premierminister der aufgehenden Sonne"
Selbst regimekritische Blogger gestehen Putin zu, die Eliten geschickt gegeneinander auszubalancieren, so sei die Regierung wie ein "Schicht-Auflauf" zusammengestellt, bei der alle wichtigen Kreml-Akteure ihre "Rezeptideen" eingebracht hätten: "Die Geschmeidigkeit der Regierung und das Fehlen jeglichen Nachgeschmacks sind ihre Hauptmerkmale." Sogar bei der Symbolik sei Putin unerreicht: Dass Ministerpräsident Michail Mischustin weitermachen darf, ließ der Kreml morgens um fünf verbreiten: "Jetzt ist Mischustin der Premierminister der aufgehenden Sonne."
"Sehr negatives Szenario"
Es gibt allerdings russische Blogger, die den willfährigen Oligarchen trotz aller Anbiederung ein schlimmes Schicksal prophezeien. Sie seien de facto zu "Geiseln Putins" geworden: "Früher oder später wird auch der eine oder andere unter den 'Rückkehrern' verstaatlicht, und dann beginnt sich die gute Stimmung in den Eliten schnell zu verändern. Und dann läuft der Prozess viel schneller ab, weil das [zu verstaatlichende] Vermögen einfach zu groß und damit zu verführerisch ist. Das bedeutet nicht, dass die Eliten sofort massenhaft ihre Loyalität aufgeben werden, im Gegenteil, sie werden diese auf jede erdenkliche Weise demonstrieren, aber das wird ihnen wahrscheinlich nicht helfen."
Je länger der Krieg andauere, desto gefährlicher werde es für die Oligarchen, die in der Rüstungswirtschaft engagiert seien und dort nach allgemeiner Auffassung seit Jahren Milliarden unterschlagen. Dann müssten "Schuldige" präsentiert werden. Der inzwischen 79-jährige Kommunistenchef Gennadi Sjuganow steht immer bereit, wenn es gilt, auf die Reichen einzudreschen: Sie hätten während des Krieges "300 Milliarden US-Dollar" ins Ausland entsorgt.
Beim jüngsten Auftritt Putins vor den Oligarchen war die Stimmung jedenfalls eisig, als er beteuert hatte, wer Russland nicht "direkten Schaden" zufüge, müsse keine Verstaatlichung befürchten. Keine Hand regte sich zum Applaus. Darauf Putin: "Ich kann Ihnen sagen, warum es keinen Applaus gab, denn die Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden gehen trotz unserer gegenseitigen Gespräche weiter, also gibt es keinen Beifall. Ich hoffe, dass wir den Ansatz, über den ich gerade gesprochen habe, wirklich weiterentwickeln und diese Situation normalisieren werden."
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