Der russische Präsident geht an Nationalflaggen vorbei
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Putin bei seiner Rede in Moskau

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"Wässrige, alte Kohlsuppe": So verspotten Russen Putin-Rede

"Wässrige, alte Kohlsuppe": So verspotten Russen Putin-Rede

Einmal mehr versuchte der russische Präsident kurz vor der Wahl gute Stimmung zu verbreiten, was ihm nur eingeschränkt gelang. Einige Fans nickten ein, Kritiker spotteten: "Das Problem besteht darin, eine Schlange mit einem Igel zu kreuzen."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Hauptsache, niemand bekommt vor Aufregung ein Blutgerinnsel", spottete ein russischer Leser über Putins groß angekündigte Rede zur Lage der Nation - ein Hinweis auf die angebliche Todesursache des prominentesten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, der am 1. März in Moskau bestattet werden soll. Ähnlich ironische Kommentare zum pompösen Auftritt des russischen Präsidenten vor den versammelten Würdenträgern von Kirche, Staat und Gesellschaft finden sich zahlreich. Dabei entlarvten die kremlkritischen Zuhörer Putins Propaganda einmal mehr als leeres Gerede. So hieß es in einem der wichtigsten Telegram-Blogs mit 166.000 Fans zur Behauptung des Präsidenten, die Kampfkraft der russischen Armee sei "um ein Vielfaches" gewachsen: "Allerdings kaufen wir aus irgendeinem Grund Drohnen aus dem Iran und Granaten aus Nordkorea."

"Ursache und Wirkung durcheinander gebracht"

Russland strenge sich gerade "unglaublich" an, die ganze Welt zu erschrecken, was nicht gerade billig sei: "Diejenigen, die früher für so was gar keine Zeit hatten, bringen sich jetzt vor uns unter dem 'Dach der NATO' in Sicherheit. Als Reaktion darauf geben wir noch mehr Geld für die 'Neutralisierung von Bedrohungen im Zusammenhang mit der Erweiterung der NATO' aus, weil sich diese Bedrohung auf Staaten ausgeweitet hat, die aus Angst vor unseren Waffen neuerdings mit den Zähnen klappern. Wer scheint da Ursache und Wirkung durcheinander zu bringen?"

Putin hatte behauptet, der Westen versuche Russland in ein neues "Wettrüsten" zu zwingen und in diesem Zusammenhang erwähnt, dass die Sowjetunion gegen Ende ihres Bestehens 13 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Rüstung aufgewendet habe. Daher müsse Russland jetzt das "Maximum" aus jedem investierten Rubel herausholen.

"Russland will nicht kämpfen"

"Im Allgemeinen hat der Präsident einige Probleme mit der Logik", so der im Exil lebende Politologe Abbas Galljamow, einst selbst Kreml-Mitarbeiter: "Zuerst beklagt er sich darüber, dass die Amerikaner versuchen, Russland in ein Wettrüsten hineinzuziehen, um es auszubluten (wie sie es einst mit der Sowjetunion taten), und dann beginnt er fröhlich zu berichten, wie viele und welche neuen Waffen Russland produziert hat und weiter produziert." Putin wolle sich die Loyalität des Volkes offenbar mit Wohltaten "erkaufen", so Galljamow, der auf eine auffällige inhaltliche Unwucht in der mehr als zweistündigen Ansprache hinwies: "Eine andere Sache, die mir auffiel, war die völlige Dominanz friedlicher Themen gegenüber militärischen. Das ist ein offensichtlicher Beweis dafür, welcher öffentliche Bedarf im Land tatsächlich vorherrscht. Russland will nicht kämpfen, es will den Krieg als bösen Traum ausblenden, und Putin spielt mit diesen Gefühlen."

Der Rubel schwebe in der Gefahr, zu "Bastelmaterial" zu verkommen, vorausgesetzt, dass China das nötige Papier dafür liefere, fasste Exil-Blogger Anatoli Nesmijan die Inflationsrisiken von Putins spendierfreudiger Politik zusammen: "Es ist die endlose Fortsetzung der Gegenwart, ständig im Kreis laufend. Das ist ein chronisches Problem aller, die zu lange hinterm Steuer sitzen. Sie sind einfach nicht in der Lage, Prognosen abzugeben und Perspektiven aufzuzeigen; es geht ihnen nur darum, den gegenwärtigen Zustand zu verlängern, als Garantie dafür, dass sie weiterhin an der Spitze bleiben." So sei auch Putins groteske Äußerung zu verstehen, er wolle "weiterhin die Demokratie fortentwickeln".

"Schlange mit einem Igel kreuzen"

Der Präsident habe einmal mehr versucht, eine "Schlange mit einem Igel" zu kreuzen, nämlich den Russen einzureden, ihr Lebensstandard werde trotz aller militärischen Aufwendungen nicht sinken, spottete Star-Blogger Dmitri Sewerjukow. Daran sei schon die Sowjetunion gescheitert, obwohl sie mehr "Potenzial" gehabt habe, der damalige Warschauer Pakt stärker und der Kalte Krieg "viel friedlicher" gewesen sei als die heutige Situation: "Es ist unwahrscheinlich, dass es in der Geschichte der Länder und Kriege ein vergleichbares Beispiel gab, in dem ein Staat mit so vielen äußeren Feinden kämpfte und gleichzeitig, als wäre nichts geschehen, die Wirtschaft voranbrachte, soziale Programme förderte und für ein Wachstum der Geburtenrate sorgte. Es ist offensichtlich, dass Russland in diesem Sinne ganz neue Worte finden und einen innovativen Weg einschlagen muss, der der übrigen Welt bisher verborgen war."

"Kollektiv-Hypnose bisher recht erfolgreich"

Die Hauptsache sei für Putin gewesen, seine Versprechungen von vor sechs Jahren vergessen zu machen, so ein Blogger. Insofern habe sich der Präsident an das russische Sprichwort gehalten, seinen Eintopf mit "wässriger, alter Kohlsuppe" zu verdünnen: "Die Schlagzahl und der emotionale Inhalt der Rede wirken beruhigend, nach dem Motto: Alles ist gut, überhaupt nichts schlecht, und es wird alles noch besser, da wir alle besiegen und Geld an alle verteilen werden. Woher das Geld kommen soll, wird jedoch ebenso verschwiegen wie die Strategie für den berüchtigten 'Sieg'." Damit habe Putin die "Illusion von Stabilität" verbreitet: "Es hätte sogar funktionieren können, wenn nicht die Faust des Schicksals an die Tür geklopft hätte und vor zwei Jahren nicht eine fatale und unwiderrufliche Entscheidung getroffen worden wäre. Allerdings waren seine regelmäßigen Therapiesitzungen zur Kollektiv-Hypnose bisher recht erfolgreich."

"Einsatz wird erhöht, weil Putin nervös ist"

Noch deutlicher drückte es Politologe Konstantin Kalaschew aus: "Der Präsident versprach die Finanzierung von allem und jedem. Geldverteilung als Entwicklungsinstrument. Irgendjemand wird sich daran gesund stoßen. Die Reichen werden reicher. Der Rest sollte darüber nachdenken, seine Rubel-Ersparnisse in etwas Zuverlässigeres einzutauschen." Der Experte empfahl Putin, sich wie einst der legendäre Kalif Harun al-Raschid (ca. 766 - 809) als einfacher Mann unters Volk zu mischen, am besten als Rentner: "Danach kann er anfangen, Japan zu überholen." Einen Machtwechsel betrachte Putin offenbar als "Schwäche" und staatliche Souveränität als Umschreibung für die "Freiheit des königlichen Willens".

Putin wolle offenbar gern "alles zu Ende bringen", wisse aber anscheinend nicht, "wie er verlieren" solle: "Der Einsatz wird noch einmal erhöht, weil er nervös ist. Wenn die Menschen im Westen keine Dummköpfe sind, werden sie verstehen, dass all diese verbalen Entgleisungen eher Ausdruck von Schwäche als von Stärke sind." Wenn Putin wirklich glaubte, Russland könne noch zehn Jahre durchhalten, hätte er den Krieg gar nicht erwähnt, argumentiert Kalaschew, und sich ganz auf die Innenpolitik konzentriert. Insgesamt habe der Präsident für einen "Stimmungsaufheller" gesorgt, ätzte der Politikwissenschaftler: "Aber mir hat am Ende der Satz gefehlt, dass die jetzige Generation noch den Kommunismus erleben wird."

"Abscheulichste und obszönste Szenarien"

Vielen älteren Zuhörern fielen zeitweise die Augen zu, auch Verteidigungsminister Sergej Schoigu, wie auf TV-Bildern zu sehen war. Kein Wunder, meinte ein Blogger mit über 100.000 Followern, die staatstragende Botschaft sei "langweilig und bürokratisch" wie immer ausgefallen: "Die herrschende Klasse leitet daraus ab, dass alles nach Plan verläuft, was bedeutet, dass ihre Bequemlichkeit und ihre Machtposition nicht gefährdet sind."

Das sei überhaupt die größte Sorge der Moskauer Elite, urteilte der Exil-Politologe Wladimir Pastuchow. Er habe deshalb das "komische Gefühl", die Realität werde die "schlimmsten Erwartungen" übertreffen: "Wir unterschätzen zwei gleichzeitig wirkende Faktoren, die sich gegenseitig aufschaukeln und stimulieren: den Wunsch von Putins Gefolgsleuten (und das sind mehr als hundert oder tausend Menschen), um jeden Preis zu überleben und ihr Wissen darum, dass sein Sturz den Verlust ihrer eigenen Macht bedeutet - und zwar von allem, nicht nur von ihrem Eigentum. Außerdem leben sie in einer gigantischen mythologischen Blase und geben sich einer neuen Utopie von einem 'außereuropäischen Russland' hin. Beides zusammen schafft die Voraussetzungen dafür, dass die unglaublichsten, abscheulichsten und obszönsten Szenarien in naher Zukunft wahr werden könnten – also alle Szenarien, außer den gemäßigten und relativ ausgewogenen."

"Audi für staunende Russen"

Zu den Lobeshymnen für die angebliche Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft meinte ein Beobachter: "Diese ganze 'Souveränität' besteht darin, ein chinesisches Auto mit dem Markenschild 'Moskwitsch' zu versehen und es dann zum Preis eines Audi an staunende Russen zu verkaufen." Putin habe letztlich nur "Beruhigungspillen" verteilt, war zu lesen, mit "gigantischen Mehrkosten", die in den kommenden Jahren zu erwarten seien.

Witzig die Beobachtung, die Präsidentin der russischen Zentralbank sei vorsichtshalber ganz in Schwarz, "wie für eine Bestattung", zu Putins Rede erschienen, was mit einem entsprechenden Foto belegt wurde. Wirtschaftsfachmann Sergej Schelin meinte dazu: "Sie hatte wahrlich Grund, traurig zu sein. Putin sagte kein Wort darüber, ob er beabsichtigt, den Haushalt im Gleichgewicht zu halten." Wie teuer die Wahlversprechen des Präsidenten genau wären, darüber gingen die Meinungen der Beobachter auseinander. In der in Amsterdam erscheinenden "Moscow Times" war von umgerechnet 100 Milliarden Euro die Rede.

"Wir müssen Führungsstil ändern"

Russische Netzkommentatoren, die sonst gern bei jeder sich bietenden Gelegenheit den berühmten chinesischen Kriegstheoretiker Sunzi (gestorben um 496 vor Christus) zitieren, hätten angesichts der sich abzeichnenden Finanzprobleme mit Fug und Recht dessen Beobachtung beisteuern können: "Noch nie hat man erlebt, dass ein geschickter Oberbefehlshaber einen Feldzug in die Länge gezogen hätte. Dass ein Staat Nutzen aus einem langwierigen Krieg gezogen hätte, ist noch nie da gewesen."

Zu den Zeiten von Sunzi seien Kommandeure noch nicht für ihre Verluste belobigt worden, wie in diesen Tagen, sondern für ihre Überlebenden, so kürzlich der prominente "Z-Blogger" Roman Aljechin: "Wir müssen das Kommandosystem und den Führungsstil ändern." Der Beobachter zeigte sich allerdings mehr als skeptisch, ob die russische Elite dafür bereit ist.

"Krieg hat alles verändert"

Gleichwohl rühmten Frontberichterstatter Putin jetzt für dessen propagandistische Bemerkung, Frontkämpfer sollten künftig Regierungsposten übernehmen, die alte Elite habe sich "diskreditiert". Dazu ein Blogger mit 580.000 Fans: "Geben Sie diesem Prozess Zeit, die alten, schlaffen Apparatschiks und bequem gewordenen Generäle, die Angst vor Verantwortung und Entscheidungen haben, klammern sich immer noch an ihre Sessel. Der Reinigungsprozess hat bereits begonnen und wird wahrscheinlich nicht aufhören, obwohl der Widerstand dagegen offensichtlich ist. Ebenso wie die Gleichgültigkeit der Massen, die müßig durch die Bars schlendern, während unsere Jungs für ihre Freunde in den Tod gehen. Der Krieg hat alles verändert."

Wenigstens an einer Stelle seiner Rede sei Putin "noch lustiger" gewesen als im Interview mit dem umstrittenen US-Journalisten Tucker Carlson, meinte ein Blogger hämisch. Putin hatte darauf verwiesen, dass der Alkoholkonsum in Russland auch ohne drastische Maßnahmen rückläufig sei und angefügt: "Hört auf zu saufen, geht Ski fahren."

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