Zuletzt machte der 81-jährige Werner Herzog dadurch von sich reden, dass peruanische Forscher eine Orchideenart in den Anden nach ihm benannten: "Sarcoglottis wernerherzogii". Als seltene Pflanze, die dieser große Künstler ist, widmet sich der in Los Angeles lebende bayerische Regisseur und Schriftsteller nichts weniger als der Wahrheitssuche in einem schmalen Buch.
Trifft man ihn zum Gespräch, erzählt er davon, dass er sich freut, dass auch in den Vereinigten Staaten langsam entdeckt wird, "dass ich einer bin, der auch schreibt". Er habe im Moment "einen massiven literarischen Output", sagt Herzog: 2021 erschein sein Roman "Das Dämmern der Welt", 2022 kamen seine Erinnerungen "Jeder für sich und Gott gegen alle" heraus, die auf der Bestseller-Liste landeten und mittlerweile auch in englischer Übersetzung vorliegen, und nun sein im typischen Herzog-Sound geschriebener Essay "Die Zukunft der Wahrheit".
Was ist Wahrheit in Zeiten von Deepfakes?
Parallel dazu hat Herzog in den vergangenen Jahren mehrere Filme gedreht und auf Festivals gezeigt. An künstlerischer Produktivität gebricht es ihm also nach wie vor nicht. "Ich bin keiner, der Schreibhemmungen hat, dasitzt und keine Zeile mehr zustande bringt. Das ist anders bei mir, ich komme nie hinterher." In seinem neuen Buch geht Herzog der Frage nach, wie es um die Wahrheit bestellt ist in Zeiten von Photoshop, Deepfakes und allgegenwärtiger digitaler Technologie.
"Welche Zukunft hat eigentlich die Wahrheit heute, im Zeitalter der Artificial Intelligence?", fragt er im Gespräch mit dem BR und skizziert das Problem: "Wir können kaum mehr unterscheiden, ob eine E-Mail, die uns erreicht, von einem Menschen oder einem Roboter geschrieben ist. Einen Politiker, der im Fernsehen auftritt, können Sie heute schon künstlich herstellen, mit allen Gesichtsausdrücken, mit seinem Sprachduktus, seiner Gestik, seiner Intonation, seiner Stimme sozusagen auch."
Der Dialog mit Žižek, der nie stattfand
So ist es Werner Herzog 2023 selbst ergangenen, als eine KI einen sinnbefreiten Dialog zwischen ihm und dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek fingierte – Herzogs berühmte Stimme klang täuschend echt. In seinem Buch schreibt er nun, dass er das Ergebnis dieses Experiments für "seelenlos" hält: "nichts anderes als die Mimikry eines Diskurses". Doch Herzog ist niemand, der sich technologischen Entwicklung entgegenstellt. Dafür ist er viel zu neugierig. Im vergangenen Jahr las er für das Audiobook "I am code" in den Vereinigten Staaten Lyrik ein, die eine KI geschrieben hatte: Code-Da-Vinci-002, eine frühe Version von ChatGPT.
Da Herzog, der selbst seit seiner Jugend Gedichte schreibt (die Literatur-Zeitschrift "Akzente" veröffentlichte 1978 bereits zehn Gedichte Herzogs), diese von einem Roboter erzeugte Poesie für besser hielt als "fast alles", was er in den letzten Jahrzehnten gelesen hatte, machte er mit, schreibt er in seinem Buch.
Cinéma Veritè? "Das ist etwas für Buchhalter"
Der schmale Band von gerade mal hundert Seiten vereint noch mal jene Grundüberzeugungen, für die Herzog seit jeher steht und die sich in dem von ihm geprägten Begriff der "ekstatischen Wahrheit" bündeln. Nur die Kunst, die Musik, die Literatur, das Kino können sie seiner Überzeugung nach hervorbringen. Ihm gehe es, schreibt er, auch in seinen Dokumentarfilmen immer darum, eine "tiefere Schicht von Wahrheit" zu erkunden, "die uns jenseits des Vermittelns reiner Information ein fernes Echo von etwas vermittelt, das uns innerlich erleuchten kann". Diese Art von Illumination stehe im Gegensatz zum Cinéma Verité, das die Wahrheit abzubilden in Anspruch nehme, "im Grunde genommen aber immer auf der Oberfläche geblieben" sei. In dieser Art Kino werde "dem Faktum ein viel zu großer Wert beigemessen".
Das Faktum sei "mehr etwas für Buchhalter", so Herzog. "Wenn Fakten alleine zählten, wäre das Telefonbuch das Buch der Bücher", formuliert er griffig. Man denkt bei diesen Passagen an Maxim Gorkis Theaterstück "Sommergäste". Darin brüllt eine etwas beschränkte Figur immerfort: "Das ist ein Faktum!", bis sie im vierten Akt nur noch schnattert: "Faktum, Fakt, Fakt … wie die Enten zu sagen pflegen." Herzog geht es um eine Überhöhung und Stilisierung der Realität auf seiner Wahrheitssuche.
Meister der "ekstatischen Wahrheit"
Wie schon in seinen großartigen Memoiren "Jeder für sich und Gott gegen alle" führt Herzog einen Satz des französischen Schriftstellers André Gide aus dem Jahr 1920 an: "Ich arrangiere Fakten dergestalt, dass sie der Wahrheit näherkommen als der Realität." Für Herzog illustriert die Pietà von Michelangelo im Petersdom in Rom, was damit gemeint sei. Michelangelo sei sein "Zeuge". Denn wenn man sich bei seiner Skulptur den vom Kreuz abgenommenen Jesus ansehe, sehe man in das Gesicht eines 33-jährigen Mannes.
"Wenn wir uns das Gesicht seiner Mutter anschauen, stellen wir fest, dass die Mutter erst 15 vielleicht 17 Jahre alt ist", so Herzog im Gespräch. "Jetzt kommt meine Frage: Hat Michelangelo versucht, uns Fake News zu geben? Hat er versucht, zu belügen und zu betrügen? Natürlich nicht. Er hat die Fakten so verändert, dass sie auf einmal einen Wahrheitsgehalt bekommen: die Wahrheit des Schmerzensmannes und die Wahrheit der Jungfrau Maria."
Zitate von Blaise Pascal und anderen frei erfunden
So nachvollziehbar diese künstlerische Argumentation ist, so merkwürdig mutet es an, dass Herzog auch in diesem Buch wie schon in seinen Memoiren "Jeder für sich und Gott gegen alle" William Shakespeare einen Satz unterschiebt, den man in dessen Werk vergeblich suchen wird. Er lautet: "Die wahrhaftigste Dichtung ist die, die am meisten vortäuscht." Ob Herzog auch hier so vorgeht wie bei dem schönen, aber von ihm frei erfundenen Satz "Manchmal träumt der Krieg von sich selbst", den er in seiner äußerst sehenswerten Doku "Lo and Behold – Wovon träumt das Internet?" (2016) dem Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz untergeschoben hatte?
In diesem Punkt, räumt Herzog freimütig ein, nehme er es selbst nicht so genau mit der Wahrheit, allerdings würde er solche "Fälschungen" als solche kenntlich machen: "Ich lasse das Publikum ja immer wissen: Hier in meinem Film ‚Lessons of Darkness‘ habe ich auf einmal ein Zitat von Blaise Pascal, dem Philosophen, erfunden. Klar, Pascal hätte es auch nicht schöner sagen können als ich", lacht Werner Herzog.
Gescheitertes Film-Projekt mit Mike Tyson
Über nie verwirklichte Film-Projekte – eines davon mit dem Boxer Mike Tyson – schreibt Herzog auch in "Die Zukunft der Wahrheit". Allein solcher Anekdoten wegen lohnt sich die Lektüre schon, wenngleich man beim Lesen auch hier rätselt: Ist das gut erfunden oder entspricht es der Wirklichkeit, dass Herzog sich mit Tyson über Pippin den Kurzen und "die fränkische Dynastie der Merowinger" austauschte und zum Fazit kam: "Seine Kenntnisse waren erstaunlich." Aber derlei Mythomanie macht Herzog seit jeher aus und trägt zur Unterhaltsamkeit des Buches bei. Man erfährt darüber hinaus viel Wissenswertes über die Entstehung hierzulande nie gezeigter Spielfilme wie "Family Romance, LLC" oder "The Incident of Loch Ness". In letzterem spielte Werner Herzog 2004 auf Bitten des mit ihm befreundeten Regisseurs Zak Penn sich selbst und sprach den nicht eben unbescheidenen Satz: "Mit mir beginnt die Wahrheit im Film." Kein Zitat signalisiert besser, warum man Werner Herzogs Suche nach der Wahrheit mit der nötigen Vorsicht begegnen sollte.
Wie sagt Herzog selbst im Gespräch? "Wahrheit ist etwas, das können wir nur mit Kneifzangen anfassen, weil niemand weiß, was das wirklich ist: Weder der Papst in Rom, noch die Mathematiker, noch die Philosophen können Ihnen da Auskunft geben."
Werner Herzog: "Die Zukunft der Wahrheit", erschienen im Carl Hanser Verlag, 22 Euro.
Dieser Artikel ist erstmals am 16.02.2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!