Ein Mann geht an schneebedeckten Fassadentrümmern vorbei
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Leben in Ruinen: Ein Passant in Sjewjerodonezk

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"Zeichen des Niedergangs": Darum müssen viele Russen frieren

Züge bleiben stehen, Wasserleitungen platzen, Strom und Heizungen fallen aus: Der Winter stellt die marode russische Infrastruktur vor unerwartete Herausforderungen, was die Stimmung erheblich trübt: Ein "kaskadenartiger Zusammenbruch" wird beklagt.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die Behörden der Region Moskau hätten "plötzlich die Kontrolle über die Lage" verloren, heißt es ziemlich sensationsheischend auf dem viel gelesenen Telegramm-Kanal "Russland kurzgefasst" mit 500.000 Abonnenten. Allein in der südlich der Hauptstadt gelegenen Kommune Podolsk seien derzeit 21.000 Menschen nach einem Rohrbruch ohne Heizung. Die Raumtemperaturen lägen bei rund zehn Grad. Es soll zu einer Demonstration von Betroffenen gekommen sein, auf der die "Bestrafung der Verantwortlichen" verlangt worden sein soll. Von einem "starken Anstieg der Proteststimmung" ist die Rede: "Was die Beamten und Gouverneur Andrej Worobjow persönlich jetzt tun werden, ist völlig unklar. Sie sagen, dass viele von ihnen in den Neujahrsferien sind."

Es ist der neueste, aufsehenerregende Fall einer Reihe von Infrastrukturproblemen, über die in zahlreichen russischen Medien geklagt wird. Dort ist vom "Zusammenbruch" kommunaler Versorgungseinrichtungen angesichts der derzeitigen Wintertemperaturen die Rede. Die Wut ist groß über marode Leitungen und unzuverlässige Verkehrsmittel, was erheblich auf die politische Stimmung drückt. So erinnert ein russischer Zeitgenosse daran, dass die Sowjetunion weit besser mit dem Frost klargekommen sei. Die Menschen hätten derzeit "Mühe, sich warm zu halten und schimpften über die Regierung". Allein im Moskauer Stadtteil Chimki seien rund 100 Gebäude "eiskalt", elektronische Temperaturregler funktionierten nicht.

Vertuschung "ziemlich erfolgreich"

"Alle reden von der ungewöhnlichen Kälte. Aber entschuldigen Sie, wir leben in Russland, nicht in Afrika", so der Blogger zu seinen 22.000 Fans: "Hier sind Temperaturen von minus 20 bis 25 Grad die Regel und gelten nicht als extrem. Und das schon vor 10, 20 und 40 Jahren. Aber die Eisenbahn funktionierte früher wie am Schnürchen, obwohl sie damals ungehobelte Schaffner hatte. Manchmal fiel auch die Heizung aus, jedoch nicht in ganzen Stadtteilen von Moskau und St. Petersburg. Und die Gepäckzustellung an Flughäfen verzögerte sich nicht wegen des Frosts, sondern wegen der betrunkenen Gepäckabfertiger. Alle aktuellen Probleme sind das Ergebnis der verschlechterten Infrastruktur und mangelnder normaler Wartung, die durch Hinweise auf das Wetter vertuscht werden sollen. Ich muss sagen, ziemlich erfolgreich. Begabten Managern gelingt es seit eh und je, besser mit Worten als mit Taten Eindruck zu machen."

Kreml-Propagandist Sergej Markow mühte sich, die Probleme damit zu erklären, dass die "reichen Moskauer so viele Elektrogeräte einschalteten, dass die Netze damit nicht mehr zurechtkämen". Auch die vielen Gäste, die zu Neujahr angereist seien, seien mitverantwortlich: "Viele Menschen machten Licht an."

Der Unmut über den desolaten Zustand der Infrastruktur ist bei weitem kein Einzelfall. Auf einem der größten Telegramm-News-Portale mit 150.000 Abonnenten heißt es so düster wie ironisch: "Das Jahr beginnt im Zeichen des Niedergangs, der kritischen Infrastruktur, der Netzüberlastungen und Unfälle. Ungewöhnliche Wetterbedingungen und ukrainische Angriffe/Sabotage können zu einem kaskadenartigen Zusammenbruch abgenutzter Gebäude, der Strom-, Wärme- und sonstigen Leitungsnetze führen. Aber all diese Probleme sind uns natürlich egal! Niemand wird diese Netze austauschen oder reparieren. Das Wichtigste scheint für uns, [das schwer umkämpfte ukrainische] Awdijiwka noch vor der Präsidentschaftswahl einzunehmen."

"Krieg wird alles ruinieren"

Mit "beneidenswerter Regelmäßigkeit" komme es zu "Durchbrüchen", ist da zu lesen, aber "leider nicht zu denen, die wir gerne hätten". In St. Petersburg beschwerten sich Mieter, es sei in ihren Wohnungen so kalt, dass es nicht möglich sei zu atmen. Ähnliche Probleme gebe es in Moskau und Podolsk: "Aber es wird bereits gehandelt: Geplant ist die Lieferung von zehn Heizlüftern." Auch ein Grund für den vermeintlichen "Niedergang" wird genannt: "Der Krieg wird alles ruinieren. Er eröffnet enorme Möglichkeiten für die Unterschlagung und Verschwendung des Geldes der Steuerzahler, das für die Aufrechterhaltung des normalen Funktionierens der öffentlichen Versorgungsbetriebe in russischen Städten notwendig ist."

Der sprichwörtliche "General Frost", der im Zweiten Weltkrieg noch Russlands "Verbündeter" gewesen sei, habe offenbar die Seiten gewechselt, so ein Kommentator mit 70.000 Fans, weil kommunale Beschäftigte in die eigene Tasche wirtschafteten: "Aber die Wut wird nicht nur durch die offensichtliche Missachtung der Menschen befeuert, sondern auch durch die Versuche der Behörden, die daraus entstehende miese Stimmung durch wortreiches Geschwätz seitens verschiedener Propagandisten wie [Medienstar] Xenija Sobtschak, [Russia Today-Chefin] Margarita Simonjan, [Putin-Propagandistin] Kristina Potuptschik zu vertuschen. Es scheint, dass niemand das Problem des kommunalen Zusammenbruchs wirklich lösen will. Umso alarmierender ist es zu sehen, wie der Lebensstandard mit neuen Maßstäben von Normalität stark sinkt, bei der ein warmer Heizkörper zum Privileg einiger weniger Behörden-Insider wird."

"Vorteile der Abhärtung"

In Moskau hätten herbeigerufene Klempner sich damit begnügt, die Temperatur zu messen, hieß es im Telegramm-Kanal "Baza" mit 1,1 Millionen Lesern: "Die Verwaltung erklärte den Betroffenen, dass das Problem auf verrostete Rohre zurückzuführen sei und forderte sie auf, 'irgendwie den Winter zu überstehen'. Nach dem Frosteinbruch fiel die Heizung vollständig aus." Mieter posteten Fotos vom Raureif an ihren Fenstern und vom Gaskocher in der Küche, nachdem ein Umspannwerk in Flammen aufgegangen war.

In den Debattenforen der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" herrscht blankes Entsetzen, gewürzt mit viel Galgenhumor: "Ich erinnere noch mal an die Vorteile der Abhärtung." Oder auch: "Die Hausverwaltung empfahl uns Yoga, um die Angst vor Kälte in den Griff zu bekommen." Andere warnten, das Badezimmer sei üblicherweise nicht der "wärmste Ort" in einer Wohnung, weil es dort in der Regel eine Belüftung gebe. Aber auch politische Kritik wurde geäußert: "In Zukunft wird alles nur noch schlimmer werden, bis das große Volk Russlands das Recht erlangt, seine eigene Regierung zu wählen. Bis das geschieht, wird sich das Verhältnis zwischen Volk und Behörden auf die Zahlung von Steuern durch die Bürger zur Erhaltung von Parasiten beschränken."

Muss Putin seine Wähler "hypnotisieren"?

Solche Debatten sind für Putin kurz vor der Präsidentschaftswahl natürlich alles andere als hilfreich, zumal der Kreml nach Kriegsausbruch damit gedroht hatte, Europa werde ohne russisches Gas förmlich "einfrieren", was mit dem Spott quittiert wurde, jetzt sei der Beweis erbracht, dass St. Petersburg eine "europäische Stadt" sei. Der Kreml muss hilflos zusehen, wie russische Medien von "Dutzenden Dörfern ohne Wärme und Strom" und reihenweise ausgefallenen Zügen berichten. Schaffner hätten entgegen der offiziellen Bekundungen, wonach "Lebensmittel und Wasser" zur Verfügung stünden, lediglich ein paar "Waffeln und Nüsse" verteilt.

Putin werde angesichts der "internen Schocks" wohl keine andere Möglichkeit haben, als seine Wähler "zu hypnotisieren", so der Politologe Ilja Ananjew. Am ehesten gelinge das, wenn Putin die Grenzregionen und den Fernen Osten bereise, der abgelegenen Heimatregion vieler Soldaten. Der Wahlkampf werde "ängstlich und nervös" ablaufen, die Duldsamkeit der Russen "gegenüber Explosionen, Sabotage und anderen Auswirkungen des Krieges" gerade schmerzlich getestet. Der angeschlagene "moralische Zustand" der Bewohner der russischen Grenzstadt Belgorod, das regelmäßig von ukrainischen Raketen beschossen wird, übertrage sich allmählich "auf das ganze Land".

"Möglichkeit zum Durchatmen"

"Der Winter legte wirklich los, als hätte er sich von der bekannten Aussage des russischen Präsidenten leiten lassen, dass wir bis jetzt noch gar nicht richtig angefangen haben", spottete ein Blogger. Normalerweise ließen sich Russen von Schnee und Frost nicht beeindrucken: "Aber die Situation im Land und in der Welt ist nun mal so, dass jene Naturphänomene, die früher als alltäglich galten, jetzt durch das Prisma der großen Politik wahrgenommen werden und man in ihnen unweigerlich nach einem bestimmten Subtext voller Symbole und Signale sucht und diese manchmal auch findet." Das neue Jahr erweise sich jedenfalls gleich zu Beginn als "hart", wenn die Temperaturen auch bald steigen sollten: "Das gibt uns Hoffnung, dass sich in diesem Jahr die Probleme mit den Erfolgen und der Möglichkeit zum Durchatmen abwechseln."

"Schande trifft uns"

Die miese Stimmung in russischen Medien wird durch allerlei skurrile Aspekte gefördert. So sorgte die Meldung für Aufruhr, dass das Land auf die Schnelle rund 320.000 Hühnereier aus der Türkei importieren musste, um die Knappheit zu beheben. Die kremlnahe Nachrichtenagentur RIA Nowosti sprach von "vorübergehenden internen Schwierigkeiten mit diesem fragilen Produkt". Selten habe er sich so "gedemütigt" gefühlt, schrieb ein russischer Blogger, zumal türkische Zeitungen hämisch darauf hingewiesen hatten, dass die Legehennen teilweise mit Getreide aus der Ukraine gefüttert worden seien: "Erstaunlich, nicht wahr?" Jedes einzelne eingeführte Ei zeuge von der "Strategie" des Kremls, so der aufgebrachte Beobachter. Für Russland sei der Eindruck "so verheerend, dass eine Steigerung schwer vorstellbar" sei.

"Wenn alles so ist, wie dieser Autor schreibt, dann trifft die Schande nicht die Ausländer oder deren Inkompetenz, sondern uns. Uns alle, die wir uns in schwierigen Zeiten vor der ganzen Welt blamieren lassen", pflichtete ein Leser bei. Ein weiterer klagte, dass Russland halt von lauter Leuten geleitet werde, die "keine Fachausbildung" hätten. Nicht mal der Verteidigungsminister habe gedient. Das sei "kein Fluch", sondern ein Faktum: "Das bedeutet, dass all die Misserfolge, die wir ständig um uns herum sehen, das unvermeidliche Ergebnis einer Wirtschaft der Bastarde sind. Eine solche Wirtschaft hat und kann keine anderen Ergebnisse zeitigen."

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