Es gibt wirklich schmeichelhaftere Vergleiche: Der systemkritische russische Polit-Blogger Andrej Nikulin traute sich, ein Video ins Netz zu stellen, auf dem KPdSU-Generalsekretär Konstantin Tschernenko Neujahrs-Glückwünsche entgegennimmt, schwer gezeichnet von Krankheit und Alter. Der Politiker starb wenige Wochen später, im März 1985. "Sogar solche Leute wurden verherrlicht", zeigte sich Politologe Nikulin entsetzt und meinte, der gebrechliche Tschernenko sei das "Symbol der Ära", in die der Kreml die Russen derzeit zurückführen wolle: "Mit düsterem Konservatismus, Hierarchiedenken, offiziellem, gespreiztem Geschwätz, einem senilen Politbüro, das seinen Höhepunkt überschritten hat, einem Wettrüsten um seiner selbst willen und dem Machterhalt bis zuletzt. Der Thron wird bereits auf einer Krankentrage liegend erklommen und das Leben endet mit einem vorbereiteten Platz in der Kremlmauer, die Pferde-Gespanne mit den Kanonen voran."
"Gesellschaft begann allmählich zu erwachen"
Gedanken an die Zukunft seien "damals wie heute" verboten gewesen: "Leben Sie im Augenblick, solange Sie noch Verantwortung tragen und glauben Sie daran, dass es immer so bleiben wird. Zukunft ist in dieser Lage überflüssig und verspricht nichts, außer der Begegnung mit der Ewigkeit." Gleichzeitig verwies der gebürtige Moskauer Nikulin darauf, dass Argentinien im Todesjahr von Tschernenko mit seiner 1983 gestürzten Militärjunta abgerechnet hat, obwohl "fast das gesamte Justizsystem durch die Zusammenarbeit mit dem Regime diskreditiert" gewesen sei.
Unbelastete Jura-Studenten hätten teilweise angeheuert werden müssen: "Die Gesellschaft, die nach mehreren Jahren des Terrors voller Angst und Schock war, begann allmählich zu erwachen, und das System, das völlig verkommen, korrupt und ausgelaugt zu sein schien, konnte, natürlich unter öffentlichem Druck, damit beginnen, sich selbst zu reinigen. Selbstverständlich nicht auf Knopfdruck, nicht vollständig, und die gesellschaftliche Spaltung und viele Probleme bleiben bis heute bestehen – aber der Schrecken, den das Land an der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahre erlebte, hat sich nicht wiederholt."
"Roter Hahn auf jedem herausragenden Gebäude"
Nun ließe sich diese teils bittere, teils ironische Bestandsaufnahme als polarisierende Einzelmeinung eines liberalen Anti-Putin-Bloggers mit 11.000 Fans abtun. Doch auch andere, eigentlich "unverdächtige" russische Kommentatoren gehen mit einer überraschend pessimistischen Bilanz in das neue Jahr und fühlen sich an die politische Erstarrung in der Endphase der Sowjetunion erinnert. Hier und da wurde angesichts des Mangels an Hühnerfleisch in den Regalen russischer Supermärkte sogar an die sprichwörtlichen "Bush-Schenkel" erinnert, mit denen die Vereinigten Staaten ab 1990 die Russen belieferten: "Ohne die Hilfe des Westens wird die Nahrungsmittelkrise offenbar erneut nicht zu bewältigen sein."
Politologe Ilja Graschtschenko (72.000 Follower) bezweifelte, dass es Putin mit seinen rückwärts gewandten Appellen und der Beschwörung "traditioneller Werte" gelingt, die von jeher "trägen" Russen davon zu überzeugen, dass sie ihren Gürtel wieder enger schnallen müssen. Das Feuer der "Kulturrevolution" könne im Gegenteil schnell außer Kontrolle geraten: "[Die Oktoberrevolution von] 1917 zeigte, dass die Menschen dazu neigen, einen roten Hahn auf jedes übermäßig herausragende Gebäude zu setzen."
"Wirtschaft stellenweise eingefroren"
In viel zitierten Netzkanälen ist zu lesen, Russland lasse die Feiertage mit dem "Gefühl" hinter sich, dass "die Wirtschaft zwar überlebt habe, aber stellenweise eingefroren sei", eine Anspielung auf die massiven, wetterbedingten Probleme in der maroden Infrastruktur. Und auch in diesem Fall wird auf Analogien zur späten Sowjetzeit verwiesen. Putin verkaufe den Russen seinen Krieg als Mischung aus einer "internationalen Mission" wie einst den Afghanistan-Feldzug und einem patriotischen Projekt wie den Bau der Baikal-Amur-Eisenbahn-Magistrale (BAM), die 1989 in Betrieb genommen wurde.
"Natürlich erforderte die damalige Situation eine entsprechende Anspannung des riesigen Landes und sogar ein gewisses Verständnis für die damit einhergehenden Probleme bei der Verknappung von Waren und Produkten", analysiert der Autor: "Aber in den Hauptbereichen funktionierte das System reibungslos, und wenn es zu unvorhergesehenen Aus- und Unfällen kam, wussten die Bürger, dass ein Besuch beim Bezirksausschuss sicherlich dazu beitragen würde, Wärme und Strom in ihre Häuser zurückzubringen und den Austausch undichter Rohre zu beschleunigen." Das gilt demnach - unausgesprochen - für die Gegenwart nicht in gleicher Weise. Obendrein seien die sowjetischen Führer bemüht gewesen, trotz aller Meinungsverschiedenheiten "nicht zu sehr von der Friedensagenda abzuweichen", um dem Land eine Konfrontation mit der NATO zu ersparen.
"Personalistisches Regime im Niedergang"
"Alles in allem sieht es nach einer Art Sowjetisierung der Wirtschaft aus. Die Bedeutung marktwirtschaftlicher Faktoren nimmt ab, während staatliche Anreize zunehmen", so der russisch-amerikanische Ökonom und Welthandels-Fachmann Oleg Itskhoki zum Kurs des Kremls. Auch das passt zum eingangs erwähnten, unvorteilhaften Tschernenko-Vergleich. Kirill Rogow, Projektleiter des Portals "Re:Russia" fragt sich sogar, ob nicht etwa die gesamte Zeit seit dem Ende der Sowjetunion als "kontinuierliche Vorbereitung" auf eine erneute Diktatur zu interpretieren sei, weil manche Russen offenbar davon "besessen" seien, das Imperium wiederherzustellen und mit Schaudern auf die "liberalen" Neunziger blickten. Das jedenfalls sei Putins Weltsicht, die jedoch keineswegs Allgemeingültigkeit beanspruchen könne, sondern im Gegenteil, aus Mythen bestehe.
Für die Opposition sei es grundsätzlich sogar vorteilhaft, gegen einen "alternden Diktator" vorzugehen: "Gerade die Zeit vor Putins Abgang ist die optimale Zeit für die russische Opposition, solange sie es mit einer 'lahmen Ente', mit einem personalistischen Regime im Niedergang, mit einem Regime zu tun hat, das erhebliche Fehler angehäuft hat, die allesamt mit der Person des Diktators verbunden sind, einem nicht sehr populären (oder völlig unpopulären) Krieg und so weiter."
"Putin von politischer Kontrolle besessen"
Im US-Fachblatt "Foreign Affairs" argumentiert Alexandra Prokopenko vom Carnegie Russia Center in Berlin, Putins politische und wirtschaftliche Ziele seien miteinander "unvereinbar". Eines von beiden müsse er auf längere Sicht aufgeben. Die Expertin sprach von einer "Illusion von Wohlstand" und verwies auf ein "Trilemma" des Kremls. Er müsse den Krieg finanzieren, die Bevölkerung bei Laune halten und finanzielle Stabilität anstreben: "Um die Probleme zu lösen, wären jahrelange Strukturreformen erforderlich, die Investitionen anlocken und das Humankapital verbessern. Aber der Kreml ist nicht in der Lage und manchmal auch nicht willens, diese Schritte zu unternehmen, weil Putin von politischer Kontrolle besessen ist."
Genau deshalb werde der Kreml auch keines der brennenden Infrastrukturprobleme lösen, schließt sich der regimekritische russische Publizist Anatoli Nesmijan der Analyse an. Bei der Elite handle es sich nämlich um "nomadisierende Banditen", die sich seit langem der Korruption ergeben hätten: "Diese Leute sind nicht gekommen, um das Land voranzubringen, sondern im Gegenteil, um es auszurauben. Selbst wenn neunzig Prozent der gestohlenen Waren bei dem Raubüberfall zu Staub zerfallen, sind die restlichen zehn Prozent ihr Nettoeinkommen." Daher gebe es nicht den "geringsten Zweifel", dass alles so weitergehe wie bisher: "Die aktuellen Versorgungskatastrophen zeigen, dass nur noch sehr wenig Zeit bleibt."
Was die "nomadisierenden Banditen" betrifft, über die Nesmijan schimpft, handelt es sich womöglich nicht nur um eine haltlose Schmähung, sondern um eine sehr lang zurückreichende historische Belastung. Der britische Autor Orlando Figes schreibt in seiner viel gerühmten "Geschichte Russlands" (2022), ein Grund für die verbreitete Korruption sei, dass der russische Beamten-Adel im Zarenreich kreuz und quer durchs Land geschickt wurde und keinerlei persönliche Verbindung zum jeweils verwalteten Gebiet hatte, wie es etwa in Deutschland üblich war. Insofern seien schon die damaligen regionalen Machthaber Russlands darauf aus gewesen, sich schnellstmöglich zu bereichern.
"Schließlich ist das ihr Zuhause"
Abgesehen von der reparaturanfälligen Infrastruktur scheint auch die Lage an der Front aus Sicht russischer Ultrapatrioten bedauernswert schlecht zu sein. So schreibt der frühere rechtsnationalistische Sicherheitspolitiker und Frontkämpfer Alexander Chodakowski: "Mittlerweile gibt es viele ausweichende Stellungnahmen, die erklären helfen, warum der Erfolg ausgeblieben ist – damit der Auftraggeber gegen das Scheitern gefeit ist." Seine ehemaligen Einheiten seien "ziemlich schnell dahin geschmolzen", wie die Fotos der Gefallenen auf Gedenktafeln bewiesen: "Noch ein bisschen mehr von diesem Kommando, und von der Einheit wird nichts und niemand mehr kampfbereit sein." Anderen Truppenteile gehe es ähnlich.
Putin selbst machte übrigens nicht mit irgendwelchen Verweisen auf die Sowjetunion Schlagzeilen, sondern weil er Besuchern stolz eine Ikone zeigte, die neuerdings in seiner Residenz Nowo-Ogarjowo bei Moskau an der Wand hängt. Sie zeigt die russisch-orthodoxe Märtyrerin Elisabeth Feodorowna (1864 - 1918), eine gebürtige Prinzessin von Hessen-Darmstadt, die den Bruder des Zaren geheiratet hatte und 1918 von den revolutionären Bolschewiken in einen Schacht gestürzt worden war, wo sie zu Tode kam. Sie hatte zeitweise in Nowo-Ogarjowo gewohnt, weshalb ein ehrfürchtiger Putin sagte: "Ich brachte sie hierher, bereitete ihr ein Heim und merkte nicht sofort, dass sie ja eigentlich nach Hause zurückgekehrt war. Schließlich ist das ihr Zuhause, sie hat hier gelebt."
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