Darum geht's:
- Im Sommer hat eine russische Gruppe gefälschte Nachrichtenseiten und Online-Petitionen in deutschen Kommentarspalten verbreitet
- Auch im französischen Präsidentschaftswahlkampf nutzte ein Kandidat fingierte Online-Petitionen
- Online-Petitionen sind laut Experten trotz ihrer Anfälligkeit für Manipulation ein wichtiges Instrument politischer Teilhabe
Dass Unterschriften gesammelt werden, um zu zeigen, dass vielen Menschen eine Sache wichtig ist, ist kein neues Phänomen. Bereits im alten Ägypten sollen nach Erkenntnissen von Historikern die Sklaven, die Pyramiden bauten, so versucht haben, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Heutzutage gibt es im Internet zahlreiche Plattformen und Webseiten von Initiativen, auf denen Online-Petitionen unterzeichnet werden können.
Analysen von Thinktanks, Berichte von Tech-Konzernen und Recherchen von Medien zeigen, dass solche Online-Petitionen auch bei Desinformationskampagnen zum Einsatz kommen - als Mittel, um die Meinung zu manipulieren und den Eindruck zu erwecken, ein Thema sei den Bürgern wichtig.
Gefälschte Nachrichtenseiten und Petitionen: Koordinierte Aktion eines russischen Netzwerks
Ein Beispiel: Im Spätsommer 2022 tauchten auf Facebook in den Kommentarspalten seriöser Medien auf einmal zahlreiche Links von gefälschten Nachrichtenseiten auf. Zuerst berichtete "t-online" darüber.
Die Fälscher bauten Nachrichtenseiten, unter anderem von "Bild.de" oder "Faz.net", nach und verbreiteten darauf gefälschte Artikel mit Falschbehauptungen rund um den Krieg gegen die Ukraine und die Auswirkungen. Einige dieser Links landeten auch in den Kommentarspalten von BR24.
Auch Links zu Online-Petitionen auf "change.org" oder "avaaz.org" verbreiteten Fake-Accounts in den Kommentaren.
Links zu fingierten Petitionen in deutschen Kommentarspalten
Die Veröffentlichungen führten zu internen Untersuchungen bei Meta, dem Mutterkonzern von Facebook. In einem öffentlichen Report über die koordinierte Aktion wird beschrieben, wie ein russisches Netzwerk die Aktion durchführte.
Die Petitionen, die laut Meta-Bericht von einem russischen Netzwerk unter dem Account "Freies Deutschland" erstellt wurden, forderten etwa eine "unvoreingenommene Berichterstattung" über den Krieg in der Ukraine, die "Bewältigung der Wirtschaftskrise" oder eine "Rationalisierung der Ausgaben für Migranten".
Die Links zu den Petitionen aus dem Bericht haben ihren Weg unter anderem in die Facebook-Kommentarspalten von "MDR Thüringen", "Westfalen-Blatt" und "Fuldaer Zeitung" gefunden, wie #Faktenfuchs-Recherchen zeigen. Auch unter Posts der österreichischen Medien "Profil", "Falter" sowie "news.at" fanden sich entsprechende Links.
Wie viele User die Links gesehen oder darauf geklickt haben, lässt sich nicht nachvollziehen. Viele der Petitionen sind nicht mehr online, einige sind noch abrufbar, mit meist eher geringen Unterschriftenzahlen im zweistelligen Bereich.
Online-Petitionen: Werkzeug der politischen Teilhabe
Petitionen haben laut Politikwissenschaftler Andreas Jungherr eine "sehr wichtige und spannende Funktion, wenn es darum geht, neue Belange oder eine politische Bruchlinie in der Gesellschaft sichtbar zu machen". Jungherr forscht an der Universität Bamberg zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf Politik und Gesellschaft.
Unterrepräsentierte Themen könnten durch Petitionen Aufmerksamkeit bekommen, sagt Jungherr im Gespräch mit dem #Faktenfuchs, insbesondere, wenn Medien darüber berichten oder Politiker sie aufgreifen und unterstützen. Online-Petitionen führen das Instrument der politischen Partizipation im Netz weiter. Über die sozialen Netzwerke können Initiatoren ihre Petitionen schnell verbreiten und Unterstützer finden.
Plattformen, die Online-Petitionen anbieten, richten dieses Werkzeug dann auf möglichst hohe Verbreitung aus, sagt Jungherr. Die Plattformen seien "für Viralität designt": "Eine Petition mitzuzeichnen, wird einem besonders leicht gemacht."
Martin Emmer, Kommunikationswissenschaftler mit Schwerpunkt politische Kommunikation an der Freien Universität Berlin sagt dem #Faktenfuchs: Dass die Beteiligungsschwelle sinkt, sei "grundsätzlich eine positive Sache". Es gebe aber eben auch den Nebeneffekt, dass eine "Inflation von Petitionen zu sehen sei", bei denen es auszuwählen gelte
Warum werden Online-Petitionen in Desinformationskampagnen genutzt?
Dass neben Nachrichtenseiten auch Petitionen im "Informationskrieg" genutzt werden, folgt laut Jungherr einem klaren taktischen Vorgehen seitens der Desinformationsakteure. "Ich glaube, hier hat eine Analyse stattgefunden, wie politische Bewegungen im Westen Aufmerksamkeit generieren, über ein verzahntes Mediensystem und auch über digitale Kanäle. Was probiert wird, ist, dieselben Mechanismen auch für sich und die eigenen Anliegen auszunutzen." Martin Emmer sieht das ähnlich.
"Es ist plausibel, dass die Online-Petitionswelt auch Spielfeld für manipulative strategische Akteure ist, die darauf abzielen, in Ländern wie Deutschland für Unruhe zu sorgen, die bestimmte politische Positionen unterbringen wollen und ganz generell, um das Vertrauen in demokratische Prozesse zu stören." Martin Emmer, Kommunikationswissenschaftler
Chaos und Unsicherheit stiften, Glaubwürdigkeit abgreifen
Petitionen können Themen auf die öffentliche Agenda bringen; im Idealfall dadurch, dass Medien oder Politiker sie aufgreifen, erklären die Experten. Auch die Zahl der Unterschriften kann dabei Auswirkungen auf die Meinungsbildung haben. Ein Experiment von Wissenschaftlern rund um Helen Margetts von der University of Oxford aus dem Jahr 2011 belegte, dass eine Petition mit vielen Unterschriften dazu führen kann, dass Menschen sich eher geneigt fühlen, ebenfalls zu unterschreiben.
Hohe Teilnehmerzahlen bei Online-Petitionen könnten zwar Eindruck machen, entscheidend ist laut der Wissenschaftler in Bezug auf Desinformationskampagnen aber etwas anderes: Sie versuchen, sich einen bestimmte Eigenschaft von Petitionen zunutze zu machen. Denn wenn es eine Petition gebe, erwecke das den Eindruck, Bürger aus der Mitte der Gesellschaft würden sich für ein Thema einsetzen, sagt Martin Emmer. Dadurch werde Petitionen eine gewisse Glaubwürdigkeit zugesprochen.
Entscheidend sei aber vor allem die grundsätzliche Verunsicherung. Emmer sagt, es komme gar nicht so sehr drauf an, was genau mit einer Petition passiere. "Sobald Misstrauen entsteht, sobald Chaos entsteht, dann ist damit für manche Akteure schon das Ziel erreicht."
Online-Petitionen auch für Kampagnen in Tschechien und Frankreich genutzt
Dass Online-Petitionen aus Perspektive von strategischen Desinformationsakteuren wie staatlichen Trolleinheiten oder organisierten Verschwörungstheoretikern dafür geeignet sind, zeigen weitere Beispiele. In dem oben erwähnten Meta-Report wird noch eine zweite koordinierte Kampagne beschrieben, diesmal chinesischer Herkunft. Sie nahm tschechische User ins Visier - und erstellte dafür auf tschechischen Plattformen Petitionen, die Stimmung gegen die Regierung machen und Druck auf die politischen Entscheidungen des Landes ausüben sollten.
Auch im Wahlkampf können fingierte Petitionen eine Rolle spielen. Im Rennen um das Amt des französischen Präsidenten hat der rechtsextreme Kandidat Éric Zemmour versucht, fingierte Online-Petitionen für seinen Vorteil zu nutzen. Das zeigt eine Analyse des Institute for Strategic Dialogue (ISD). Demnach hat eine Organisation, die Verbindungen zu Zemmours Wahlkampagne hatte, mindestens ein Dutzend Petitionen erstellt, ohne den Ursprung der Petitionen - nämlich aus Zemmours Umfeld - transparent zu machen. Dabei ging es um Themen wie die Corona-Impfung oder Migration.
Die Petitionen wurden anschließend auf Twitter und Facebook verbreitet - laut ISD in einer Art und Weise, die auf eine koordinierte Aktion schließen lässt. Wenige Accounts waren für einen großen Anteil der Verbreitung verantwortlich und ein großer Teil der Interaktionen erfolgte bereits nach wenigen Sekunden.
ISD-Analystin Zoé Fourel zufolge hatte das Erfolg: Mindestens eine Petition sei auch von anderen Usern aufgegriffen worden. "In einem gewissen Ausmaß waren sie erfolgreich darin, auch Menschen außerhalb der Zemmour-Wahlkampf-Bubble zu erreichen", sagt Fourel im Gespräch mit dem #Faktenfuchs.
Astroturfing: Online-Petitionen bieten neue Möglichkeiten für altes Phänomen
Grundsätzlich gibt es das verdeckte Einmischen in die öffentliche Meinungsbildung schon länger. Das Phänomen des "Astroturfings", eine Bewegung aus der Mitte der Bevölkerung für vermeintliche politische Unterstützung vorzutäuschen, ist nicht neu - und wird im Internet lediglich fortgeführt.
Auch auf Straßendemonstrationen tauchen bestimmte Akteure auf, die politische Partizipation "kapern", sagt Martin Emmer. Vor allem im religiös-extremistischen und rechtsextremen Milieu sei das zu beobachten. "Es soll der Anschein erweckt werden, bestimmte Themen oder Anliegen kämen von ganz normalen Bürgern." Das sorge für eine gewisse Authentizität. Dahinter stehe auch: "Eine Strategie, um in den deutschen Diskurs reinzukommen."
Online-Petitionen bieten auch aufgrund ihrer offenen Gestaltung einen Anknüpfungspunkt für diese Strategie. Bei vielen Plattformen reicht eine gültige Emailadresse, schon kann unterschrieben werden, auch unter einem falschen Namen. Die Daten werden bei den meisten Online-Petitionsplattformen nicht überprüft. Auf der E-Petitionsseite des Deutschen Bundestags hingegen schon, dort muss man sich mit der Meldeadresse registrieren.
Hier kann eine Petition dazu führen, dass sich der Petitionsausschuss des Bundestags damit beschäftigt. Hier sind die Unterschriftszahlen meist deutlich niedriger als auf Plattformen wie "Change.org" oder "Avaaz", wo die Teilnahmehürde zwar niedrig ist, jedoch auch keine parlamentarischen Prozesse in Gang gesetzt werden.
Außerdem finden sich, insbesondere über russische Suchmaschinen, zahlreiche Anbieter, die Fake-Unterschriften für Online-Petitionen verkaufen - samt Captcha-Umgehung, also der Überprüfung, ob ein Bot oder ein echter Mensch unterschreibt. 1.000 Unterschriften von verschiedenen IP-Adressen kosten bei einem Anbieter 2.800 Rubel (umgerechnet rund 45 Euro).
Was tun Petitionsplattformen gegen Missbrauch?
Der #Faktenfuchs hat "Change.org" und "Avaaz" angefragt, zwei große Plattformbetreiber, die in der koordinierten Aktion über die Facebook-Kommentarspalten betroffen waren. "Avaaz" antwortete nicht, "Change.org" schriftlich.
Ein Sprecher von "Change.org" schreibt, im Rahmen der koordinierten Aktion über Facebook seien fünf Petitionen entfernt und die damit verbundenen Konten gesperrt worden. Zu diesem Zeitpunkt war nach #Faktenfuchs-Recherchen noch mindestens eine Petition von "Freies Deutschland" online, dem Account unter dem das russische Netzwerk Fake-Petitionen verbreitet hatte.
Wie hoch der Anteil an Petitionen ist, die gesperrt werden und was man gegen Unterschriftenkauf tue - auf diese Fragen antwortet der Sprecher nur allgemein: "Change.org arbeitet hart daran, sicherzustellen, dass jede Unterschrift und jede Petition eine echte Person repräsentiert. Aus diesem Grund verfügen wir über eine Reihe automatischer Systeme, Tools zur Überprüfung von Unterschriften und Teams, die uns dabei helfen, problematisches Verhalten schnell zu erkennen und zu bewältigen, einschließlich Beeinflussungsversuche."
Wie problematisch ist das für die Petitionen selbst und die demokratische Gesellschaft?
Der Bamberger Politologe Andreas Jungherr sagt, es sei natürlich problematisch, dass Akteure versuchen, sich mit böser Absicht in die Meinungsbildung einzumischen. Jedoch müsse man abwägen. Dass unsere digitale Öffentlichkeit angreifbar sei, liege eben auch daran, dass sie integrativ und für alle Menschen offen ist. "Klar sind diese Angriffe ein Ärgernis. Aber ein Ärgernis, dass es wert ist, in Kauf zu nehmen, angesichts dessen, was dadurch an neuer und tieferer politischer Partizipation für ganz normale Bürgerinnen und Bürger möglich gemacht wird."
Martin Emmer sieht es ähnlich: "Wir dürfen uns da nicht verrückt machen lassen." Trotz der Schwachstellen von Online-Petitionen würden die Vorteile überwiegen. Nur weil es eine Einflussnahme gibt, sollte man nicht die Finger davon lassen. "Wir würden genau in die Falle laufen, wenn wir keine Petitionen mehr nutzen würden."
Worauf können User bei Petitionen achten?
- Zahl der Unterschriften mit Misstrauen betrachten: Insbesondere bei Plattformen, bei denen lediglich eine Emailadresse für eine Unterschrift benötigt wird, spiegeln die Unterschriften möglicherweise nicht die tatsächliche gesellschaftliche Zustimmung wider.
- Ersteller der Petition: Wird deutlich, wer genau hinter der Petition steckt und welche Absichten und Ziele die Person bzw. Organisation verfolgt?
- Verbreiter der Petition: Wie sind Sie auf die Petition gestoßen und wo wird die Petition noch weiterverbreitet? Überprüfen Sie die Accounts, die Links der Petition verbreiten. Sie können auch nach dem Link der Petition googeln.
- Beschreibung der Petition: Finden sich in der Beschreibung seltsame Formulierungen, die darauf hinweisen könnten, dass der Text übersetzt oder maschinell erstellt wurde?
Fazit
In der jüngeren Vergangenheit gab es mehrere Desinformationskampagnen oder politische Kampagnen, in denen fingierte Online-Petitionen genutzt wurden. Dabei werden Online-Petitionen erstellt und im Netz geteilt, um den Anschein zu erwecken, aus der Bevölkerung werde ein bestimmtes politisches oder gesellschaftliches Anliegen vertreten.
Bei vielen großen Plattformen, die Online-Petitionen anbieten, braucht es lediglich eine gültige Emailadresse, um zu unterzeichnen. Trotz derartiger Schwachstellen halten Experten Online-Petitionen weiterhin für ein wichtiges Instrument politischer Meinungsbildung.
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