Ludwig Boche ist Vorstand beim Kirchheimer Sportclub, ein Amateurverein 15 Kilometer nordöstlich von München. Es ist Ende März, auf dem Platz heißt es: Abstiegskampf in der Bayernliga, Gegner ist die zweite Mannschaft des TSV 1860 München.
Neben Ludwig Boche am Spielfeldrand steht Vater Christian, seit 20 Jahren Kirchheimer Fußball-Abteilungsleiter, und schüttelt den Kopf. Vater und Sohn können kaum glauben, was sie auf einem Tablet sehen: Das Fünftliga-Spiel ist bei mindestens 40 internationalen Wettanbietern im Angebot – dabei sind Wetten auf Amateursport in Deutschland laut Glücksspielstaatsvertrag verboten.
Wetten auf Spiele aus Oberligen und Regionalligen
BR-Recherchen zeigen: In der vergangenen Saison wurden zahlreiche Partien der deutschen Oberligen und Regionalligen auf dem globalen Wettmarkt angeboten.
Allein am Tag des Kirchheimer Heimspiels gegen 1860 München II waren mehr als 50 verschiedene deutsche Amateurfußballspiele im Angebot internationaler Wettanbieter, wie eine Auswertung durch BR Data ergab. Vereinzelt fanden sich darunter auch Landespokalspiele und Spiele aus niedrigeren Spielklassen wie Landes- und Verbandsligen.
Oft wissen Vereine und Spieler dabei überhaupt nicht, dass ihre Spiele auf dem Wettmarkt landen. Auch die Boches erfahren erst durch die BR-Recherchen, dass die Spiele des Kirchheimer SC dabei sind.
Wer schießt das nächste Tor, wie viele Tore fallen bis zur Halbzeit, mit vielen Toren Abstand gewinnt eine Mannschaft? Darauf kann unter anderem bei Amateurspielen gewettet werden – auch live während des Spiels, mit ständig veränderten Quoten.
Risiken: Wettsucht und Spielmanipulation
Der Glücksspielforscher Tobias Hayer von der Universität Bremen warnt im BR-Interview vor dem hohen Suchtpotenzial solcher Live-Wetten. Diese seien mit entsprechend schnellen "Highs und Downs" verbunden, sagt der Wissenschaftler. In Deutschland gelten etwa 1,3 Millionen Menschen als glücksspielsüchtig, steht im Glücksspielatlas von 2023.
Und nicht nur das: Die Integrität des Amateurfußballs steht auf dem Spiel, denn mit Sportwetten auf Amateurspiele wächst die Gefahr der Spielmanipulation. Je geringer die Entgelte der Spieler, umso anfälliger seien diese für Manipulation, heißt es von der Gemeinsamen Glücksspielbehörde der Länder (GGL).
BR-Anfragen bei unterschiedlichen Ermittlungsbehörden ergeben: In den vergangenen Jahren gab es im deutschen Amateurfußball mehrere Verdachtsfälle und Ermittlungsverfahren wegen Sportwettbetrug.
Im Video: Der Kirchheimer SC und die globale Wettindustrie
Wer erhebt die Live-Daten?
Doch wie kommen die Daten von Sportplätzen wie in Kirchheim auf die Webseiten der Wettanbieter – noch dazu in Echtzeit, um Live-Wetten auf deutsche Amateurspiele zu ermöglichen?
Einem BR-Reporterteam gelang es, den Datenverkehr von einem der größten Sportdatenhändler einzusehen: Sportradar. Das milliardenschwere Schweizer Tech-Unternehmen beliefert zahlreiche internationale Wettanbieter mit Live-Daten von Amateurspielen, das zeigt die Auswertung von BR Data. Dafür schickt Sportradar sogenannte Datenscouts auf Fußballplätze. Dort erfassen die Personen vor Ort mit ihren Smartphones die Geschehnisse auf dem Fußballplatz und übermitteln sie live an Sportradar. Über Sportradar gelangen die Informationen zu zahlreichen Wettanbietern.
In der Saison 2023/24 hat Sportradar offenbar zu über 4.000 deutschen Fußballspielen solche Datenscouts geschickt, mindestens 2.700 davon – also zwei Drittel – waren Amateurspiele. In vielen Ländern der Welt waren bei mehr als 13.000 Amateurspielen Datenscouts von Sportradar vor Ort.
Sportradar: Fragwürdige Doppelrolle
Sportradar hat dabei eine fragwürdige Doppelrolle. Neben dem Verkauf von Sportdaten bietet der Konzern mit seiner Abteilung "Integrity Services" eine besondere Dienstleistung für Sportverbände an: Eine kostenlose Überwachung des Wettmarkts, um Spielmanipulation aufzudecken. "Eine Verpflichtung für den sauberen Sport", sagt Andreas Krannich, der die Abteilung leitet.
Doch ausgerechnet die Firma, die den Fußball vor Wettbetrug schützen möchte, bietet im großen Stil Live-Daten für Wetten auf Amateurspiele an, die besonders anfällig für Spielmanipulation sind.
Als BR-Reporter Andreas Krannich zu Datenscouts bei deutschen Amateurspielen befragen, bricht dieser das Interview ab. Schriftlich teilt Sportradar mit: Das Unternehmen biete Daten an – und verpflichte die Wettanbieter vertraglich, sich an die Gesetze der jeweiligen Länder zu halten.
Wetten auf Amateurspiele auch aus Deutschland möglich
Deutsche Amateurspiele sind auf den Webseiten Dutzender Wettanbieter gelistet. Darunter sind zahlreiche Buchmacher ohne staatliche Lizenz in Deutschland, aber auch hierzulande lizenzierte Wettanbieter wie Interwetten, bet365, Bet-at-Home und Betano. Sie bieten die Fußballspiele unterhalb der dritten Liga nur im Ausland an. In Deutschland sind diese Angebote nicht ohne Weiteres abrufbar.
Mit etwas technischem Aufwand ist das internationale Angebot teilweise auch hierzulande erreichbar. Nach BR-Informationen kann zudem über Drittparteien, sogenannte "Broker", auf deutsche Amateurspiele gewettet werden.
Auf Anfragen antworten zwei Wettanbieter: In Deutschland würden nur von der Glücksspielbehörde erlaubte Wetten angeboten. Es gebe Sicherheitsmaßnahmen, um zu verhindern, dass Spieler aus Deutschland auf das internationale Wettangebot zugreifen.
Behörde sieht keinen Handlungsbedarf
Ronald Benter, Vorstand der Gemeinsamen Glücksspielbehörde der Länder (GGL), sieht seine Behörde hier nicht in der Pflicht. Er betont, das internationale Angebot von Wetten auf deutsche Amateurspiele sei für die Behörde nur relevant, "wenn eine Wettteilnahme von Deutschland aus möglich ist." Dann gelte es zu prüfen, ob daraus Konsequenzen wie eine öffentliche Abmahnung erwachsen könnten.
Nach Angaben der Behörde sei das Wetten auf Amateurspiele bei keinem der oben genannten Wettanbietern mit deutscher Lizenz möglich gewesen. BR-Reporter konnten jedoch beobachten, wie bei mindestens einem lizenzierten Wettanbieter auf ein Spiel des Kirchheimer SC gewettet werden konnte.
DFB: Keine nachgewiesenen Fälle
Der für den Amateursport zuständige DFB-Vizepräsident Ronny Zimmerman sagt im Interview, er habe bisher nicht von dem internationalen Wettangebot auf deutsche Amateurspiele gewusst.
Dabei finden sich unter den lizenzierten Wettanbietern, die auf ihren ausländischen Seiten deutsche Amateurspiele anbieten, auch zwei Sponsoren des DFB. "Ich finde das legitim, solange ein Partner auf einem anderen Markt die dortigen Regelungen anwendet", sagt Zimmermann.
Angesprochen auf die Gefahr von Spielmanipulation für den deutschen Amateurfußball, sagt Zimmermann: "Nachgewiesene Fälle gibt es im Grunde keine." Darauf müsse man sich bei der Betrachtung konzentrieren.
BFV verweis auf Hausrecht
Der Bayerische Fußballverband (BFV) schreibt auf BR-Anfrage, der Verband nehme das Thema Spielmanipulation sehr ernst. Den Einsatz von Datenscouts erachte der Verband als "zusätzlichen Präventionsbaustein gegen Manipulation", wenn die Scouts einen Nachweis erbringen, dass ihr Auftraggeber ein für Monitoring beauftragtes Unternehmen sei.
Sportradar – ein Unternehmen, das Datenscouts zu deutschen Amateurspielen schickt und damit Livewetten im Ausland ermöglicht – hat keinen solchen Auftrag für die Überwachung von Regionalliga und Oberliga. Im Umgang mit Datenscouts weist der Bayerische Fußballverband auf das Hausrecht der Vereine hin.
Machtlose Vereine?
In Kirchheim macht Fußball-Abteilungsleiter Christian Boche genau von diesem Hausrecht Gebrauch. Beim letzten Heimspiel der vergangenen Saison hängt er einen Ausdruck auf, der das Datensammeln für Sportwetten untersagt.
Trotzdem entdecken die Kirchheimer Vereinsverantwortlichen in der zweiten Halbzeit erneut einen Datenscout von Sportradar und verweisen ihn des Geländes. "Zumindest ein kleiner Teilerfolg", sagt Vorstand Ludwig Boche.
Der Kirchheimer SC ist durch den Abstieg in die Landesliga vorerst aus dem Visier der Wettindustrie geraten. Aber das Geschäft der Sportwettindustrie läuft weiter: In der aktuellen Saison kann wieder auf zahlreiche deutsche Amateurspiele gewettet werden – auch in der Bayernliga.
Die ARD-Story "Angriff auf den Amateurfußball - Die Gier der Wettindustrie" zeigt einen Einblick in das Geschäft zwischen Wettanbietern und Sportdatenhändlern. Wie gelangen deutsche Amateurspiele in Echtzeit auf den globalen Wettmarkt? Was sagen die Vereine dazu? Was machen DFB und Glücksspielbehörde dagegen? Die Doku ist ab 14.08. in der ARD Mediathek und am 19.08. im Anschluss an die Übertragung der ersten Hauptrunde des DFB-Pokals im Ersten zu sehen.
Hilfe und Beratung zum Thema Spielsucht für Betroffene und Angehörige gibt es hier:
- Check dein Spiel – kostenlose anonyme Hilfe [externer Link]
- BZgA-Telefonberatung zur Glücksspielsucht: 0800/137 2700
- Hilfe zur Selbsthilfe: Anonyme Spieler [externer Link]
- Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen und Fachkliniken in der Umgebung finden: Fachverband Glücksspielsucht [externer Link]
- Kostenlose Experten-Hotline des Fachverbands Glücksspielsucht: 0800/077 6611
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