Menschen neben einem Plakat mit der Aufschrift: "Wir suchen einen Arbeitgeber für 300 Menschen"
Bildrechte: BR24/Patricia Kiel

"Wir suchen einen Arbeitgeber für 300 Menschen" - mit diesem Plakat will die Callcenter-Belegschaft Interesse wecken.

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Callcenter-Schließung: Belegschaft sucht neuen Arbeitgeber

Erst wurden die Beschäftigten vom Arbeitgeber ausspioniert, nun soll das frühere H&M-Callcenter in Nürnberg ganz geschlossen werden. Das wollen sich die 300 Mitarbeiter nicht gefallen lassen. Sie suchen auf eigene Faust einen neuen Arbeitgeber.

Über dieses Thema berichtet: Regionalnachrichten Franken am .

Bei der Betriebsversammlung des Webhelp-Callcenters in der Beuthener Straße in Nürnberg ist die Stimmung gedrückt. Das liegt aber weniger an der schwülen Hitze in der stillgelegten Kantine, sondern vielmehr am Inhalt der Versammlung. Das Callcenter, das für den Modekonzern H&M arbeitet, soll Ende November 2024 geschlossen werden, trotz eines zufriedenen Auftraggebers. Die knapp 300 Beschäftigten stehen vor der Entlassung. Nun suchen sie mit einer Anzeige nach einem neuen Arbeitgeber.

Nachricht von Schließung keine Überraschung

Für die meisten hier kam die Nachricht wenig überraschend. "Ich war gerade in Elternzeit, da hat mich eine Kollegin angerufen und gesagt: "Du hast ab Dezember keinen Job mehr." Im ersten Moment war ich geschockt, aber eigentlich war mir schon klar, dass das passiert", sagt Mitarbeiterin Saskia Kratzer. Die Alleinerziehende arbeitet seit sieben Jahren im Callcenter. "Wir haben schon geahnt, dass wir vielleicht geschlossen werden, aber ich habe bis zuletzt gehofft, dass das nicht passiert", ergänzt ihre Kollegin Simone Dorsch. Eine Mitarbeiterin kämpft mit den Tränen. Sie arbeitet schon seit der Eröffnung im Jahr 2008 in dem Callcenter. "Ich bin psychisch sehr angeschlagen. Ich bin schon von Anfang an mit dabei und habe auch viel Herzblut in das Unternehmen reingesteckt", sagt sie. Der Gang zur Arbeit falle ihr schwer, seit sie von der Schließung erfahren habe.

Erst ausspioniert, jetzt gekündigt

Die Belegschaft in dem Callcenter bearbeitet Reklamationen für den Modekonzern H&M. Bereits 2019 geriet der Betrieb in die Schlagzeilen. Damals erstellte H&M Profile, in denen persönliche Daten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesammelt wurden. Das Modehaus sollte daraufhin ein Bußgeld von mehr als 35 Millionen Euro zahlen. 2022 verkaufte H&M das Callcenter an die Webhelp Sun Holding GmbH, wickelte aber weiterhin Reklamationen über den Standort ab. Die beiden Vertragspartner vereinbarten damals, dass die Beschäftigten mindestens zwei Jahre lang zu denselben Konditionen weiterarbeiten können.

Nach der Übernahme gab's Entlassungen

Seit der Übernahme hat sich die Belegschaft von mehr als 500 auf noch knapp 300 Beschäftigte reduziert. Offene Stellen seien höchstens noch intern neu besetzt worden, heißt es aus der Belegschaft. Folglich sei auch die Arbeitsbelastung für die verbliebenen Kolleginnen und Kollegen gestiegen.

Auftraggeber war zufrieden mit Arbeit

Trotz aller Schwierigkeiten schätzen die Mitarbeiter die Arbeitsatmosphäre im Team. Es sei sehr familiär zugegangen, erzählen sie. Noch im März seien sie für ihre Arbeit gelobt worden, erzählt Simone Dorsch. H&M sei sehr zufrieden mit der Leistung am Nürnberger Standort gewesen und habe mit ihnen in die Zukunft gehen wollen. Wenige Wochen später erhielten die Mitarbeiter dann die Nachricht über die Schließung des Callcenters.

Beschäftigte müssen Kollegen im Ausland einlernen

Ihre Arbeit soll nun auf andere Webhelp-Standorte im kostengünstigeren Ausland ausgelagert werden. "Ich habe schon seit Monaten Kontakt mit den Mitarbeitern im Kosovo", erzählt Simone Dorsch weiter. Sie ist schon seit zwölf Jahren dabei. Nun soll sie den Kolleginnen und Kollegen im Ausland, die ihre Stelle übernehmen, einlernen und ihre Arbeit übergeben.

Schließung von vorneherein geplant?

Die Belegschaft vermutet, dass die Webhelp Sun Holding GmbH nie geplant hatte, den Standort in Nürnberg nach Ablauf der zweijährigen Frist weiter zu betreiben. "Seit der Übernahme durch Webhelp wurde es immer schlechter. Man war nur noch eine Nummer", berichtet Saskia Kratzer. Die Lohnkosten seien im Vergleich zu denen ihrer Kollegen im Ausland einfach zu hoch. Die möchte man jetzt vermutlich einsparen, heißt es vom Betriebsrat.

"Die Enttäuschung ist riesig. Wir haben Alleinerziehende, Leute mit Schwerbehinderung und welche, die kurz vor der Rente stehen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, und wir hatten gehofft, dass es seit der Sache mit dem Datenschutzskandal endlich mal fair zugeht", sagt Dominik Zlamal. Auffällig sei auch, dass an dem Gewerbegelände in der Beuthener Straße nie ein Firmenschild angebracht worden sei. Auf eine Anfrage von BR24 zu den Vorwürfen der Belegschaft antwortete Webhelp bisher nicht.

Betriebsrat sucht per Anzeige nach neuem Arbeitgeber

Auch wenn der Betriebsrat die Schließung nicht mehr verhindern kann, möchte er dennoch aktiv werden. In einem Brandbrief an die Bundesregierung, die bayerische Staatskanzlei und die Stadt Nürnberg bittet er um Unterstützung. Der Arbeitgeber solle endlich Verantwortung für die knapp 300 Beschäftigten übernehmen, heißt es dort. Ein Interessensausgleich zwischen dem Betriebsrat und der Webhelp Sun Holding GmbH ist bereits gescheitert. Der Betriebsrat hat daher auf einem großen Plakat eine Stellenanzeige entworfen. "Wir suchen einen Arbeitgeber für 300 Menschen" steht dort geschrieben. "Unser Anspruch ist es, dass keiner unserer Kollegen nach dem 30. November in die Arbeitslosigkeit fällt. Deshalb suchen wir einen Arbeitgeber, der die Möglichkeit hat, unsere ganze Belegschaft zu übernehmen", erklärt der Betriebsratsvorsitzende Günter Schäfer. Es habe auch Gespräche mit der IHK gegeben, wonach einige Mitarbeiter durch ihre Berufserfahrung nachträglich einen Abschluss in Büromanagement oder -marketing machen können.

Verdi: Arbeitgeber ziehen sich aus Verantwortung

Michael Batog von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi unterstützt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Webhelp-Callcenters. "Tatsächlich ist es in den letzten Jahren immer öfter vorgekommen, dass sich die Arbeitgeber gerne aus der Verantwortung ziehen, wenn es um Abwicklungen geht“, berichtet Batog. Gemeinsam wollen sie jetzt zumindest eine finanzielle Abfindung für die Nürnberger Belegschaft erwirken. Oder noch lieber: Einen neuen Arbeitgeber finden. Geboten werden "300 wunderbare Menschen (...), die hochmotiviert sind und über ausgezeichnete Erfahrungen verfügen".

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