Monatelang haben Wirtschaft und Politik um einen Industriestrompreis gerungen. Nun gibt es eine Kompromisslösung: Damit die Unternehmen des sogenannten "Produzierenden Gewerbes" in Deutschland ihre Produktionskosten senken können, werden die Stromsteuern für sie abgesenkt. Sofern alle Beteiligten zustimmen, soll für Industrieunternehmen ab 2024 der Anteil der Stromsteuer von 1,54 Cent je Kilowattstunde auf den EU-weiten Mindestsatz von 0,05 Cent gesenkt werden. Bisher ist das noch eine Beschlussvorlage, die bis Jahresende in ein Gesetz umgewandelt werden soll, dem noch zugestimmt werden muss.
Wie hoch ist der Strompreis für die Industrie aktuell?
Die Strompreise für Unternehmen variieren je nach Verbrauch und Versorger. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft hat aber für ein prototypisches Unternehmen die Preisentwicklung der vergangenen Jahre berechnet. In dem Beispiel hat ein mittelständischer Betrieb aus dem produzierenden Gewerbe einen neuen Stromvertrag abgeschlossen. Er verbraucht zwischen 160.000 und 20 Millionen Kilowattstunden und zahlt entsprechend dieses Jahr 26,5 Cent je Kilowattstunde. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr wären das wegen der in die Höhe gesprungenen Strompreise noch 53,4 Cent gewesen, also deutlich mehr. 2021 hingegen wären es gerade mal 21,4 Cent gewesen.
Aber bleiben wir bei dem angenommenen Preis für das aktuelle Jahr. Der Anteil an Steuern bei diesen 26,5 Cent beträgt 2,86 Cent. Und davon wiederum beträgt der Anteil an Stromsteuern seit Jahren konstant 1,537 Cent je kWh. Dieser Anteil würde laut dem Willen der Bundesregierung auf 0,05 Cent fallen, wodurch der gesamte Strompreis auf 25 Cent sinken würde. Das ist weit entfernt von den 6 Cent je Kilowattstunde, von denen man im Bundeswirtschaftsministerium ausgeht.
Grafik: Entwicklung der Strompreise seit 2019 für Industrie bzw. Haushalte
Welche Auswirkung hätte die gesenkte Steuer konkret für die Industrie?
Wie viel weniger Geld die Unternehmen künftig für ihren verbrauchten Strom zahlen, das bleibt wegen verschiedenster Faktoren noch im Unklaren. Die Bundesregierung geht von einer Entlastung in Höhe von insgesamt 2,75 Milliarden Euro aus. Die Unternehmen, die am meisten Strom verbrauchen, werden auch die sein, die am meisten von der gesenkten Steuer profitieren. Besonders stromintensive Unternehmen sind beispielsweise in der Stahl- und Zementindustrie zu finden.
Unternehmen verbrauchen unterschiedlich viel Strom, noch dazu verwenden einige nach wie vor Öl oder Gas für ihre Produktion. Allein deshalb ist gerade noch nicht absehbar, wie gewinnbringend die gesenkte Stromsteuer tatsächlich für die Industrie wäre. Hinzu kommen noch Definitionsfragen: Welche Unternehmen gehören denn genau zum produzierenden Gewerbe? Sind das alle, die produzieren und verarbeiten – also auch die kleine Bäckerei? Oder sind das nur die, die auch eine Fertigungshalle haben?
Profitieren auch Verbraucherinnen und Verbraucher von der gesenkten Steuer?
Direkt betrachtet haben die Verbraucherinnen nichts davon. Die Steuersenkung gilt nur für größere Unternehmen, nicht für private Abnehmer oder kleine Unternehmen. Auch die Dienstleistungsunternehmen sind ausgenommen.
Es ist auch nicht mit Preissenkungen durch die erlassene Steuer zu rechnen, weil der Anteil zu gering ist. Mittelfristig, so zumindest die Hoffnung, profitieren aber die Privatleute von der gesenkten Steuer, weil die Industrie nicht abwandert. Ob der Plan so aufgeht, wird sich zeigen.
Wieso kommt diese Entscheidung ausgerechnet jetzt?
Der Strompreis für Industrieunternehmen setzt sich, ähnlich wie der für Privathaushalte, aus verschiedenen Komponenten zusammen. Grob unterteilt sind das die Beschaffungskosten auf der einen und die Steuern auf der anderen Seite. Die Beschaffungskosten waren für die Unternehmen in den Krisenjahren seit dem Beginn des Kriegs Russland gegen die Ukraine deutlich höher als für Privathaushalte. Das liegt vor allem daran, dass die Industrie ihre Stromverträge oft kurzfristig abschließt.
Bisher hat sich dieses Spontanrisiko für Unternehmen immer über die Steuern ausgeglichen. Denn die Industrie muss im Vergleich zu den Privathaushalten nur relativ geringe Steuern zahlen, allein schon, weil sie de facto von der Mehrwertsteuer befreit ist. Nachdem diese Balance aber im vergangenen Jahr zu Ungunsten der Industrie verloren gegangen ist, haben viele Unternehmerinnen und Unternehmer vermehrt über die Abwanderung ihrer Produktion in vermeintliche oder tatsächliche Billigstromländer nachgedacht. Im internationalen Vergleich sind die Stromkosten für Betriebe hierzulande tatsächlich hoch, weshalb die Politik zunehmend in Bedrängnis kam, auf die Forderungen der Unternehmen einzugehen. Das ist mit dem gesenkten Stromsteuersatz nun geschehen.
Es wird von einem Strompreis-Paket gesprochen. Was wurde noch beschlossen?
Die Stromsteuersenkung ist vorerst für die Jahre 2024 und 2025 angelegt. Da sie bereits die steuerlichen Abgaben auf das Minimum reduziert, soll im Gegenzug der bisherige Spitzenausgleich auslaufen. Über den konnten sich bisher energieintensive Unternehmen einen Großteil ihrer abgeführten Stromsteuer zurückerstatten lassen.
Die sogenannte Strompreiskompensation, die rund 350 Unternehmen von Kosten durch den EU-Emissionshandel entlastet, soll für fünf Jahre verlängert und zudem ausgeweitet werden. Eine Extra-Entlastung für rund 90 besonders stromintensive Unternehmen ("Super-Cap") soll ebenfalls ausgeweitet werden.
Wer zahlt das alles?
Das Geld soll aus drei verschiedenen Töpfen kommen. Durch die Senkung wird der Staat etwa 2,75 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen haben. Diese Lücke muss aus dem normalen Bundeshaushalt kompensiert werden. Damit kommt die Bundesregierung gerade noch rechtzeitig, denn nächsten Donnerstag zurrt der Haushaltsausschuss im Bundestag den Etat für 2024 fest. Finanzminister Lindner sieht zwar eigentlich wenig Spielraum. Die jüngste Steuerschätzung brachte aber 2,3 zusätzliche Milliarden, außerdem darf der Bund wegen der schwachen Konjunktur etwas mehr Schulden machen als bisher geplant. Deshalb sei es machbar. "Alle Maßnahmen sind im Rahmen der Schuldenbremse finanziert", betonte Lindner.
Die Änderung bei der Strompreiskompensation betrifft zudem den Klima- und Transformationsfonds, der neben dem Bundeshaushalt besonders für Klimaschutz-Ausgaben existiert. Er gilt eigentlich als längst überzeichnet, weil die Bundesregierung immer neue Programme in den Fonds schiebt. Doch für gewöhnlich fließen längst nicht alle vorgesehenen Mittel ab. Der Zuschuss zu den Netzentgelten kommt aus einem weiteren Neben-Fonds, dem gut gefüllten Wirtschaftsstabilisierungsfonds.
Welche (energieintensiven) Unternehmen in Bayern profitieren?
Von der Steuersenkung dürften laut IHK-Schätzung etwa 8.000 bayerische Betriebe aus dem verarbeitenden Gewerbe profitieren. Klassischerweise stromkostenintensive Betriebe sind die metall- und kunststoffverarbeitenden Betriebe, die Chemieindustrie und auch die Lebensmittelindustrie. Von denen haben sich aber in den vergangenen Jahren viele unabhängiger von der zentralen Stromversorgung gemacht und sich mit Wind- und Solarenergie eigene Stromquellen geschaffen. Besonders viel Industrie findet sich in Oberbayern und in Niederbayern, also dort, wo sich Autoindustrie und Maschinenbau angesiedelt haben. Beide Branchen gelten als energieintensiv, aber sie verbrauchen neben Strom auch oft Gas oder Öl.
Was sagen Experten?
Während die Politik von einem "Befreiungsschlag" für die Industrie spricht, sind die Stimmen aus der Industrie verhaltener. Der Hauptgeschäftsführer der IHK München und Oberbayern kritisierte gegenüber BR24, dass der deutlich größere Teil der bayerischen Betriebe nichts von der Steuersenkung hätte, weil sie keinen Industriestrom beziehen.
Der Verband der bayerischen Energie- und Wasserwirtschaft (vbew) kritisiert den Beschluss ebenfalls: "Die Entlastungen für die einen bedeuten Kosten für die Anderen", so Detlef Fischer, Hauptgeschäftsführer des vbew. "Letztlich ist es nur Umverteilung auf Kosten der Steuerzahler", so Fischer weiter.
Bei der IG Metall reagiert man zwiegespalten: "Mit diesen Maßnahmen werden keine Verbesserungen erzielt, aber weitere Verschlechterungen verhindert", schätzt die Gewerkschaft die Entscheidung gegenüber der Nachrichtenagentur dpa ein. Ähnlich sieht das auch Karen Pittel vom ifo-Institut. Im Interview mit BR24 sagt die Energieexpertin: "Das hier ist ein Kompromiss." Denn durch die entfallenen Steuern werden zwar Entlastungen geschaffen, aber auch Anreize zum Stromsparen nicht untergraben. Das war die zentrale Kritik der Gegner in der Debatte um einen Industriestrompreis. Deshalb sei "eine Steuerentlastung besser als eine Pauschalsubvention." Aber der Wechsel hin zu Erneuerbaren sei damit eben auch nicht attraktiver geworden.
- Zum Artikel: Strom und Gas: Wie geht es bei den Preisen weiter?
Dieser Artikel ist erstmals am 10. November 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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