Protagonistin Dobrina D. schaut verzweifelt zur Seite.
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Die ehemalige 24-Stunden-Betreuerin ist verzweifelt: Wo ist ihr Geld?

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Pflege um jeden Preis: Das Geschäft mit der 24-Stunden-Betreuung

In Deutschland gibt es über fünf Millionen Pflegebedürftige. Pflegeheime werden teurer, die Betreuung zu Hause oft nicht möglich. Ausländische 24-Stunden-Betreuungskräfte sind gefragt. Für sie ist es aber ein Geschäft ohne verbindliche Regelungen.

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Es hätte die Rettung aus ihrer finanziellen Krise sein sollen. Vor zehn Jahren entdeckte Dobrina D. die Annonce einer bulgarischen Vermittlungsagentur. Es werde Personal gesucht, das als 24-Stunden-Betreuungskraft in Deutschland arbeiten möchte. Dobrina zögert nicht. Ihr Mann war die letzten Jahre schwer an Parkinson erkrankt, seine Medikamente waren extrem teuer. Sie musste einen Kredit aufnehmen und stand nach seinem Tod vor einem riesigen Schuldenberg. Da wirkte der Job in Deutschland lukrativ. Eine schnelle Bewerbung später wurde sie von ihrem Wohnort an der bulgarischen Schwarzmeerküste zu ihrem ersten Betreuungsfall in den deutschen Süden geschickt. Es sollten im Anschluss noch drei weitere solcher Betreuungseinsätze in Deutschland folgen.

Dass am Ende ihrer Arbeit als 24-Stunden-Betreuerin deutsche Medien ihretwegen Artikel mit Schlagzeilen wie "Was kostet Würde?" und "Pflege vor dem Aus?" titeln sollten, ahnte sie da noch nicht.

"Wir sind keine Frauen dritter Klasse"

In Deutschland steigt der Bedarf an 24-Stunden-Betreuungskräften aus dem Ausland rasant an. Mittlerweile gibt es über 5,6 Millionen Pflegebedürftige. Pflegeheime werden immer teurer. Und viele Familien können die Betreuung zu Hause selbst nicht stemmen. In solchen Fällen kommen Menschen wie Dobrina ins Spiel. 24-Stunden-Betreuungskräfte aus Osteuropa und dem Balkan, die mit diesem Job deutlich mehr als in ihrer Heimat verdienen. Allein in Bulgarien liegt der Mindestlohn bei 2,85 Euro pro Stunde. Schätzungen zufolge sollen bis zu 600.000 solcher Betreuungskräfte aus dem Ausland bei uns arbeiten. In Deutschland verdienen sie oft dreimal so viel wie in ihrem Heimatland.

Trotzdem hat sich Dobrina mittlerweile aus der Branche zurückgezogen. Mit der 24-Stunden-Betreuung hat sie schlechte Erfahrungen gemacht. Heute trifft man die 72-Jährige häufig an ihrem Küchentisch ihrer kleinen Zweizimmerwohnung am Schwarzen Meer an, wo sie sich durch Dokumente wühlt, die sie sorgsam über die letzten Jahre hinweg aufbewahrt hat: Alte Arbeitsverträge mit ihrer bulgarischen Vermittlungsagentur, diverse Kündigungsschreiben und am allerwichtigsten: das Urteil eines deutschen Gerichts.

Denn Dobrina hat erfolgreich in Deutschland geklagt und vor dem Bundesarbeitsgericht Recht bekommen. Als erste 24-Stunden-Betreuerin jemals. "Ich wollte allen beweisen, dass wir keine Frauen dritter Klasse sind. Wir haben nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte" sagt sie selbstbewusst.

24/7 im Dienst

Ihren Wendepunkt erlebte Dobrina bei ihrem letzten Betreuungsfall in Berlin. Für vertraglich festgelegte 30-Stunden die Woche verdiente sie 950 Euro. Vor Arbeitsantritt war ihr nicht bewusst, wie intensiv der Betreuungsfall sein würde. "Ich war in ständiger Bereitschaft. Als ich beim Betreuungsfall ankam, konnte die Frau gar nicht aus dem Bett aufstehen. Ich half ihr mit der Zeit sich zu erholen, aufzustehen und sich zu bewegen", erinnert sie sich. Dobrina arbeitet von Beginn an deutlich mehr. Und verdient schnell schon nicht mal mehr den Mindestlohn.

Das Problem: 24-Stunden-Kräfte leben fast immer im selben Haus wie ihre Betreuungsfälle, sind somit ständig erreichbar, viele damit quasi immer auf Bereitschaft. So war es bei Dobrina: "In der Nacht musste sie jede halbe Stunde auf Toilette." Irgendwann war es schließlich der Sohn des Betreuungsfalles, der sie auf ihren Lohn aufmerksam machte. "Er sagte: 'Wir zahlen der Agentur 2.150 Euro. Ruf sie an und verlang von ihnen, dass sie deinen Lohn erhöhen.'" Ihre Agentur hatte mehr als die Hälfte des Betrages einbehalten. Dobrina ist wütend, geht gleich einen Schritt weiter: Und klagt.

32.500 Euro stehen ihr zu

Das Bundesarbeitsgericht bestätigt: Dobrina muss für ihre vertraglich festgelegten Arbeitszeiten und ihre Zeiten in Bereitschaft den Mindestlohn erhalten. Ihre bulgarische Agentur, die sie an die deutschen Fälle vermittelt hat, schuldet ihr somit über 32.500 Euro.

Ihr Fall schlägt hohe Wellen. Zum ersten Mal wird prominent über die Arbeitsbedingungen der ausländischen 24-Stunden-Betreuungskräfte in Deutschland gesprochen. Das ist dringend notwendig, denn einige dieser Betreuungskräfte realisieren nicht, wenn sie schlecht behandelt, schlecht bezahlt und teilweise schlicht ausgebeutet werden. Dobrina schafft es sogar mit dem Urteil zu einem Vermerk im Koalitionsvertrag der Ampelregierung: "Wir gestalten eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich." Doch der große Knall blieb trotzdem aus.

Dobrinas Agentur meldet direkt nach dem Urteil Insolvenz an. Und auch in drei Jahren Ampelregierung hat sich im Bereich der 24-Stunden-Betreuung nichts verändert. Auf Nachfrage bei der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Claudia Moll, heißt es, man arbeite an einer Vorlage für einen Gesetzesentwurf. Wie der Inhalt aussehen soll - noch unklar.

Pflege – um welchen Preis?

Dass 24-Stunden-Betreuungskräfte mit ihren Beschwerden an die Öffentlichkeit treten, ist eine Seltenheit. Die meisten in der Branche trauen sich das höchstens anonym. Zu groß ist die Sorge, im Anschluss auf einer sogenannten "Schwarzen Liste" der Vermittlungsagenturen zu landen und keine Anstellungen mehr zu finden.

Umso wichtiger ist Dobrinas Fall. Er zeigt deutlich, wie viele verschiedene Akteure für einen erfolgreichen Ablauf zusammenarbeiten müssen. Zum einen müssen die Betreuungskräfte ihre Rechte kennen. Wissen, was ihnen an Lohn und Pausen zusteht. Dann die Vermittlungsagenturen, die die Frauen sozial- und krankenversichern und ihnen ihren zustehenden Anteil ausbezahlen müssen. Und die Familien, die kontrollieren müssen, dass sich die Betreuungskraft an ihre Arbeitszeiten halten kann.

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