Emidio Gaudioso im Depot für abgeschnittene Haare der Initiative "Hair help the Oceans". Von versprochenen Haarfiltern gibt es bisher nur einen Prototypen.
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Emidio Gaudioso im Depot für abgeschnittene Haare der Initiative "Hair help the Oceans". Bisher läuft allerdings noch keine Produktion.

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Top oder Flop: Mit abgeschnittenen Haaren Ozeane retten?

Rund 280 bayerische Friseursalons beteiligen sich an der bundesweiten Initiative "Hair Help the Oceans". Mit den abgeschnittenen Haaren sollen Ölfilter für verschmutzte Gewässer hergestellt werden. Doch bisher ist mit den Haarspenden nichts passiert.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Die Initiative "Hair Help the Oceans" kann sich vor Haaren kaum noch retten. Jeden Tag liefert die Post Kartons mit abgeschnittenen Haaren nach Niedersachsen, zu einem Friseursalon in Bückeburg. Die Haare sollen helfen, die Meere zu säubern, so der Plan. 600 bis 800 Kisten mit Abfall von Friseursalons sind es jeden Monat aus ganz Deutschland und einigen Nachbarländern, heißt es. So genau kann das keiner mehr zählen. Doch bisher retten die Haare kein Meer. Sie warten noch auf ihren Einsatz.

Haare sollen bei der Säuberung der Meere helfen

Vor zwei Jahren startete ein Würzburger Unternehmensberater gemeinsam mit dem Friseur aus Niedersachsen die Aktion "Hair Help the Oceans". Die Idee ist gut und macht Hoffnung auf einen sauberen Planeten. Denn: Haare können viel Fett aufsaugen. Viele Hundert Friseurinnen und Friseure erzählen ihren Kunden täglich die Geschichte von den Haaren, die Motoröl und Sonnencreme aus Meeren und Flüssen filtern. Doch ganz so weit ist es noch nicht.

Friseure zahlen 25 Euro pro Haar-Paket

Die Geschichte zieht, viele Menschen wollen der Umwelt gerne helfen. Vor allem, wenn es so einfach ist. Rund 1.800 Friseursalons in Deutschland und mehreren Nachbarländern beteiligen sich. Wie viele es genau sind, kann "Hair Help the Oceans" im Moment selbst nicht so genau sagen. Es kommen ständig neue Friseure dazu und andere springen wieder ab. Auch Friseurmeister Max Böhm aus Treuchtlingen schickt einmal im Monat einen großen Karton voller Haare nach Bückeburg. Ihm war die Umwelt und eine sinnvolle Verwertung des Haarabfalls wichtig. "Ich zahle 25 Euro dafür, dass ich mitmachen darf. Dafür spare ich mir ein bisschen Müllgebühren für den Restmüll", sagt Max Böhm. Und er darf sich das Logo von "Hair Help the Oceans" ins Schaufenster hängen.

Ölfilter für die Ozeane: hauptsächlich Marketing?

Die Initiative "Hair help the Oceans" verspricht den beteiligten Friseuren eine Urkunde als "Hair Help Hero" und Hilfe bei der Pressearbeit. Das Treuchtlinger Tagblatt hat über Max Böhm berichtet, ein großer Radiosender erwähnt ihn. Und auch der Bayerische Rundfunk kommt vorbei. Über "Hair Help the Oceans" haben zahlreiche TV-Sender berichtet, es gibt unzählige Berichte in lokalen Zeitungen. Was aus den Haaren wird, haben bisher wenige hinterfragt. Ein etwa 30 Meter langer Schlauch ist in einer TV-Doku von Arte zu sehen, die Anfang des Jahres gesendet wurde. Gründer Emidio Gaudioso hat diesen mithilfe eines Abflussrohres und einem Stopfstab selbst hergestellt.

Friseurmeister ist inzwischen Medienprofi

Emidio Gaudioso ist Friseurmeister und inzwischen auch Medienprofi. In der niedersächsischen Kleinstadt Bückeburg betreibt er einen großen Friseursalon. Zwölf Mitarbeitende stehen für die Kundinnen und Kunden bereit, die Atmosphäre ist herzlich. Emidio Gaudioso ist das Gesicht von "Hair Help the Oceans", sprudelt vor Ideen und Tatendrang. Bei seinem Friseursalon werden all die Kartons mit Haaren angeliefert, die Friseure in Deutschland und einigen Nachbarländern sammeln. Sein Geschäftspartner sitzt in Unterfranken und betreibt in der 4.000-Einwohner-Ortschaft Kürnach eine Unternehmensberatung für Friseurinnen und Friseure.

Haarschläuche gegen Ölkatastrophe – erste Tests

Dass mit Haaren gefüllte Schläuche gegen Umweltverschmutzungen wirksam sind, haben Inselbewohner bei einer Ölkatastrophe vor Mauritius im Indischen Ozean erprobt. Öl setzt sich an der Haaroberfläche fest, somit kann ein Haar das drei-bis neunfache seines Gewichts an Öl aufnehmen, sagen Experten. An der Hochschule Magdeburg-Stendal hat Abwasser-Experte Prof. Jürgen Wiese im Auftrag von "Hair Help the Oceans" einige Tests durchgeführt. "Ich finde die Ideen cool", sagt Wiese zu BR24. Und dass er den Enthusiasmus von Emidio Gaudioso schätzt. Deshalb habe er einige "orientierende Untersuchungen" gemacht und auf "konzeptioneller Ebene diskutiert". Die Frage sei nun, wie man daraus ein kommerzielles Produkt machen könnte, so Jürgen Wiese.

Inzwischen 30.000 Euro Einnahmen im Monat

In die Entwicklung eines konkreten Produktes scheint derzeit niemand viel Zeit zu stecken. "Wir machen das alles ja nur nebenbei", sagt Gaudioso. Sein Geschäftspartner Thomas Keitel bestätigt dies bei einem Telefonat. Während Gaudioso viele Interviews gibt, zwei Prototypen von Haarschlauch-Füllmaschinen mitentwickelt hat und sich um die angelieferten Haare kümmert, ist Keitel für die Buchführung zuständig. "Wir haben Tausende Stunden Lebenszeit reingesteckt", sagt er BR24. Und scheint in einem Wust von Papieren schier zu ersticken. Er spricht von 900 Seiten Kontoausdrucken und zig Rücklastschriften. Es gibt monatlich rund 1.800 Einzeleinzahlungen. "Das muss man erstmal bewältigen", so Keitel. 32.000 bis 35.000 Euro Umsatz im Monat habe man inzwischen durch die Mitgliedsbeiträge der vielen beteiligten Friseursalons. "Dabei bleibt nix übrig. Wir wären froh, wenn wir unsere Arbeitsstunden reinkriegen würden."

Produktion läuft noch nicht – Marketing schon

In seinen zahlreichen Interviews erzählt Emidio Gaudioso immer wieder von neuen Ideen. Man arbeite an Filtermatten, die Mikroplastik aus Flüssen filtern. Man plane Haarmatten, die Feuchtigkeit auf trockenen Äckern halten. Und man wolle Bindemittel für bei Unfällen ausgelaufenes Motoröl herstellen, aus dem Flaum der extrem kurzen Haare, den Emidio Gaudioso "Haarmehl" nennt. Seit einigen Monaten lässt "Hair Help the Oceans" in den Friseursalons auch Korken von Weinflaschen sammeln. Diese sollen als Granulat den Haarschläuchen beigefügt werden und die Schläuche an der Wasseroberfläche halten.

Container voller Haare

Und wo sind all die Haare hin, die seit zwei Jahren von hunderten Friseursalons nach Bückeburg geschickt werden? Täglich liefert die Post Kartons mit Haaren bei Emidio Gaudiosos Friseursalon ab. Mit einem kleinen Transporter werden sie von Gaudiosos Mitarbeitenden zu einem 1.200 qm großen Firmengelände am Rand der Kleinstadt gebracht. Drei große Schiffscontainer seien bis oben voll gestopft mit Haarwolle, erklärt Emidio Gaudioso. Und zeigt uns zwei kleinere. Er demonstriert, wie die Mengen an Haarwolle büschelweise hinter eine Lattenwand geworfen werden. "Wir beschweren das dann mit Paletten, damit mehr reinpasst", sagt er.

Bisher kein Produkt in Sicht

In einer großen Lagerhalle auf dem Firmengelände stapeln sich viele Hundert Kartons. Um die Kartonagen abtransportieren zu können, hat "Hair Help the Oceans" eine Kartonpressmaschine angeschafft. Hier in der Halle stehen auch die Prototypen der Maschinen, die Emidio Gaudioso zusammen mit einem Maschinenbauer hergestellt hat. Damit können Stoffschläuche befüllt werden. Eine Maschine saugt, eine andere stopft. Dahinter hängt ein riesiges Transparent mit einer glücklichen Meeresschildkröte. Doch bisher läuft keine Produktion. "Wir sind bald so weit, dann können wir loslegen", sagt Gaudioso und strahlt. "Wir brauchen nur noch etwas Zeit".

Wird an Zertifizierung wirklich gearbeitet?

Es fehle noch an der Zertifizierung, erklärt Emidio Gaudioso zunächst und verweist auf Professor Jürgen Wiese, dessen Ergebnisse dazu noch nötig seien. Doch auf Nachfrage wird klar, an der Zertifizierung arbeitet niemand. Wiese erklärt, eine Zertifizierung werde es von ihm nicht geben. "Wir haben kein Leitschema bekommen", sagt er auf Anfrage von BR24. Für die Tests der Hochschule Magdeburg hat "Hair Help the Oceans" eine niedrige fünfstellige Summe gezahlt, sagt Gaudiosos Geschäftspartner Thomas Keitel. Er erklärt, die Zertifizierung der Schläuche sei derzeit gestoppt. Es gebe Probleme mit dem Stoff, in den die Haare eingefüllt werden könnten. Offenbar ist noch unklar, welches Material sich überhaupt eignen würde. "Man will ja nicht, dass der Stoff das Öl aufsaugt, sondern die Haare innen drinnen", erklärt Abwasser-Experte Jürgen Wiese.

Treuchtlinger Friseur gibt "Hair Help the Oceans" Zeit

Friseurmeister Max Böhm aus Treuchtlingen will der Initiative noch Zeit geben. Die Idee sei einfach zu gut. Und als selbständiger Friseurmeister verstehe er, dass Dinge Zeit brauchten, wenn sie nebenbei erledigt werden müssten. Sein Kollege Arben Lumi aus Weißenburg meint hingegen, es sei schade, wenn Geld in irgendwelchen Kanälen versickere und nur wenig beim eigentlichen Zweck ankomme. Andererseits sei auch viel Geld notwendig, wenn eine Sache richtig groß werden soll. "Wir werden in ein, zwei Jahren sehen, was daraus geworden ist", so Lumi.

Friseurinnung distanziert sich

Doch die Vertretung des bayerischen Friseurhandwerks hat nicht mehr so viel Geduld und distanziert sich von "Hair Help the Oceans". "Grundsätzlich passt die Zielsetzung der Initiative in die Zeit, in der alle etwas für Nachhaltigkeit tun wollen", sagt die Geschäftsführerin des Landesinnungsverbands der Bayerischen Friseure, Doris Ortlieb. Bei dem Projekt gebe es allerdings bisher keine Ergebnisse. Deshalb habe man die Initiative bisher auch nicht empfohlen.

Allein in der Stadt München machen rund 30 Friseure bei "Hair Help the Oceans" mit. "Wenn es kein Produkt gibt, ist es Greenwashing“, meint Obermeister Christian Kaiser. Das könne die Innung dann natürlich nicht unterstützen.

Mann holt gespendete Haare aus Karton.
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Können abgeschnittenen Haaren die Ozeane retten? Das behauptet eine Hilfsorganisation. Doch bisher ist mit den Haaren nichts passiert.

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