Darum geht's:
- Gegner der Corona-Maßnahmen greifen Menschen tätlich an.
- Sie tun das, weil ihre Opfer stellvertretend für ein verhasstes "System" stehen.
- "Querdenker" bedienen sich dabei populistischer und radikaler Ideologien.
"Ich vernichte Euch alle." Mit diesen Worten griff Ende August 2022 auf dem Münchner Marienplatz ein 23-Jähriger einen Reporter des Bayerischen Rundfunks tätlich an. Laut Polizei beschimpfte er Medienvertreter "als Volksverräter und Impfterroristen" – das sind Begriffe, wie sie "Querdenker" verwenden. Solche Gewalt ist kein Einzelfall: Auf Corona-Demonstrationen werden Medienvertreter immer wieder attackiert. Ein besonders drastisches Beispiel ist der "Maskengegner", der im September 2021 im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein einen Tankstellen-Kassierer erschoss.
Der Münchner Angreifer ist nach BR-Recherchen dem äußeren rechten Spektrum zuzuordnen. Dass Rechtsextremisten auf Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen auftreten, ist kein Einzelfall, wie bereits im September 2020 eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion belegte. Der Schütze von Idar-Oberstein, am 13. September 2022 zu lebenslanger Haft verurteilt, war dagegen nach den bisherigen Erkenntnissen nicht organisiert, und er ist offenbar nie auf einer "Querdenker"-Demo gewesen. Der Gegner der Corona-Maßnahmen radikalisierte sich aber im Internet. Das Gericht sah in der rechtsradikalen Einstellung des 50-Jährigen und in seiner Feindschaft gegen den Staat das Hauptmotiv für die Tat.
Die politische Dimension der Gewalt
Der #Faktenfuchs zeigt zum Beispiel hier, hier und hier, welche Falschbehauptungen unter "Querdenkern" kursieren und sich auch darüber hinaus verbreiten. Zugleich berichtete BR24 immer wieder über Fälle, in denen Angreifer gewalttätig wurden, die in entsprechenden Milieus oder Internetforen unterwegs waren. Dieser #Faktenfuchs-Hintergrund soll die Brücke schlagen zwischen diesen Vorfällen und der Ideologie dahinter - auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Die Politikwissenschaftlerin Astrid Séville von der Ludwig-Maximilians-Universität München sagt im Gespräch mit dem BR24 #Faktenfuchs, dass Gewaltbereitschaft durch viele Faktoren begünstigt werde. "Neben individuellen, sozialen und psychologischen Faktoren, die hier eine große Rolle spielen, sollten wir (...) nicht die politische Dimension von Gewalt außer Acht lassen", sagt sie.
Die "Querdenker"-Szene ist diffus und nur schwer einzuordnen. Jedoch spricht der im Juni 2022 vorgestellte Verfassungsschutzbericht von einer "Radikalisierung der Protestformen" bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Vor allem gegenüber Polizisten verhielten sich die selbsternannten Querdenker "konfrontativ", wodurch die Proteste bis hin zum "Umschlagen in eine gewalttätige Auseinandersetzung" "eskaliert" würden.
Warum die Opfer zufällig, aber nicht beliebig sind
Der Journalist, der Polizist, der Tankstellen-Kassierer, der zum Maskentragen auffordert. Die Täter kannten diese Opfer nicht. Dennoch handelt es nicht um reine Zufallstaten. Denn die Opfer repräsentieren das Haupt-Feindbild der "Querdenker", den Staat. So heißt es in den "25 Thesen zum Corona-Terrorregime", die die von "Querdenkern" viel gelesene Wochenzeitung "Demokratischer Widerstand" im November 2020 veröffentlichte: "Den Gegnern des Corona-Terror-Regimes drohen die Merkel-Faschisten und ihre Polizeistaatshelfer die Eskalation der Repression an: 'Mehr Härte zeigen, das Gewaltmonopol des Staates darf nicht in Frage gestellt werden'." Die Polizei wird hier als ausführendes Organ einer "faschistischen" Diktatur dargestellt. Die ARD fungiere als deren "Propaganda-Zentrale", heißt es in einer anderen Ausgabe des "Demokratischen Widerstands".
Der Schütze von Idar-Oberstein erschoss den Tankstellen-Kassierer, weil er ihn laut Urteil des Landgerichts Bad Kreuznach als Repräsentanten des von ihm verhassten Systems wahrgenommen habe. In den Sozialen Medien hatte er zuvor verschwörungstheoretische Inhalte verbreitet. Dem Gericht zufolge ließ sich eine Radikalisierung seit 2013 ausmachen. Die "Echokammern" der Sozialen Medien tragen laut den Forschern des "Dangerous Speech Project" dazu bei, dass sich Gleichgesinnte (...) gegenseitig radikalisierten. "Mit der Inbrunst der Solidarität" verbreiteten sie gefährliche Inhalte effizienter.
Der Feind steht fest
"Geeinter Volkswille ist stärker als jede unrechtmäßige Autorität", schreibt der "Demokratische Widerstand" in einer anderen Ausgabe. Er übernimmt den populistischen Gegensatz, den Lena Frischlich - sie ist Kommunikationsforscherin und Psychologin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster - im Gespräch mit dem #Faktenfuchs wie folgt beschreibt: "Populisten gehen davon aus, dass ein homogenes, gutes und einfaches Volk den korrupten oder böswilligen Eliten gegenübersteht, die verhindern, dass der 'echte' Volkswille, den die Populisten vertreten, umgesetzt wird". Die liberale Demokratie werde als "System" abqualifiziert, ihre vermeintlichen Vertreter verschwörungstheoretisch als Ausführende eines "geheimen Plans" zur Zerstörung dieses Volkswillens identifiziert.
"Der Gegner" ist also im Rechtspopulismus jemand, der der eigenen Gruppe – in diesem Fall die "aufrechten Bürger" – irreparablen Schaden zufügen will. Das "Dangerous Speech Project" kommt zu dem Ergebnis: "Indem die fremde Gruppe als Bedrohung der eigenen Gruppe dargestellt wird, wird Angst erzeugt."
Das hat Konsequenzen. Lena Frischlich sagt: "Was (…) ein Faktor (der Gewalt, Anm. d. Red.) sein kann, ist die Verschmelzung der eigenen Identität mit einer stark polarisierten Identität, bei der 'die Guten' sich 'den Bösen' gegenüberstehen und als letzte Instanz für die heiligen Werte in den Kampf ziehen." Wer an den Gegensätzen zwischen einem bewahrenswerten "Wir" und dem zerstörerischen "Anderen" glaubt, könne "ideologisch davon überzeugt" sein, "sich verteidigen zu müssen". Der "Demokratische Widerstand" spricht inzwischen von "Krieg" und rät den Lesern, keine Kompromisse einzugehen: "Dem Gegner Verbesserungsvorschläge zu machen ist absurd."
Nach Einschätzung von Astrid Séville schüren Rechtsextremisten den Eindruck, dass "Zeit- und Handlungsdruck bestehe. Es sei an der Zeit, sich 'Deutschland zurückzuholen', es sei Zeit für eine 'Jagd'. Es entstehe ein Klima der Handlungsnotwendigkeit – und so ein (...) Nährboden, ein (...) Resonanzraum für rechtsextremistische Gewalttaten. Der aufrichtige, rechte Bürger wird als Mann der Tat charakterisiert, dessen 'Hass keine Straftat' sein könne". Der Satz "Hass ist keine Straftat" ist ein Zitat des AfD-Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland.
Die Radikalisierung der “Querdenker”
Warum stehen hier "Querdenker", die sich ursprünglich zusammentaten, um legitimer Kritik an den Corona-Maßnahmen Gehör zu verschaffen, in einem Atemzug mit Rechtsextremismus? Experten wie Fabian Virchow, Politikwissenschaftler und Professor am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften an der Hochschule Düsseldorf, erkennen "eine zunehmende Einkapselung in Verschwörungserzählungen und der Instrumentalisierung der Protestbewegung durch die radikale Rechte". Virchow schreibt in einem Online-Beitrag für die Bundeszentrale für politischen Bildung, etliche Protestversammlungen hätten "extrem rechten Aktivisten (...) jedweder Couleur (...) weitgehend ungehindert Gelegenheit zur Agitation" geboten.
Auch die Nürnberger Rechtsextremismus-Expertin Birgit Mair vom "Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung", das zum Rechtsextremismus forscht, stellt im BR-Interview eine fortschreitende Radikalisierung einiger "Querdenken"-Anhänger fest. Deren Hetze gegen die Regierung ziele "darauf ab, einen Umsturz vorzubereiten".
Ein Ausdruck dieser Radikalisierung ist die in diesem #Faktenfuchs bereits dargelegte kompromisslose Sprache der Querdenker-Zeitung "Demokratischer Widerstand", von der einst die ersten Proteste gegen die Corona-Maßnahmen ausgingen. Längst lässt das Wochenblatt Ideologen der Neuen Rechten wie Götz Kubitschek, Ellen Kositza oder Benedikt Kaiser zu Wort kommen. Der "Demokratische Widerstand" erschien erstmals im April 2020 mit der Aufmacher-Schlagzeile "Wir sind die Opposition". Von Anfang an mobilisierte das Blatt gegen das "de-facto-diktatorische Hygiene-Regime" der Bundesregierung.
Aktuell arbeitet die Zeitung laut einer in dem Online-Projekt "Gegneranalyse" erschienenen Studie des Dresdner Soziologen und Rechtsextremismus-Experten Felix Schilz intensiv mit "Compact", dem "Scharniermedium der extremen Rechten", dem islamfeindlichen Blog "PI-News" sowie der neonazistischen Partei "Freie Sachsen" zusammen, in der gemeinsam ins Leben gerufenen "Impfstreikkampagne". Die Grenzen von den "Querdenken"-Aktivisten und dem extrem rechten Spektrum verschwimmen also.
"Der Aufstand ist unumgänglich", schreibt Kubitschek
Kubitschek, Kopf des vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall beobachteten "Instituts für Staatspolitik" (IfS), schrieb kürzlich im Blog der IfS-Zeitschrift "Sezession": "Der Aufstand ist unumgänglich." Man werde dafür sorgen, "dass die Proteste (gegen Energiesparmaßnahmen im Herbst, Anm. d. Red.) nachhaltig, unversöhnlich und grundsätzlich werden. Wir werden dort sein, wo man uns braucht". Björn Höcke, thüringischer AfD-Landesvorsitzender, kommentierte auf Twitter: "Ja, es geht um nichts weniger als die Zerstörung Deutschlands..."
Scharfmacher wie Höcke sind in der AfD kein Einzelfall. Ein BR-Recherche Anfang Dezember 2021 zugespielter interner Chat der bayerischen AfD offenbarte ebenfalls Umsturzpläne und Gewaltdrohungen.
Teile der Querdenker, Teile der AfD und Teile der Neuen Rechten vereint also eine gemeinsame Ideologie, die dem demokratischen Staat den "Krieg" erklärt hat. Die radikale Rhetorik dieser Ideologie stachelt zumindest indirekt zur Gewalt an. Aber Ideologien haben auch andere Funktionen. Sie können "der Rechtfertigung von Gewalt dienen – vor allem dann, wenn Gewalt als Verteidigungsgewalt (...) interpretiert werden kann", sagt Lena Frischlich.
Auf einen anderen Aspekt macht Astrid Séville aufmerksam: Es sei "nicht zu vernachlässigen (...), dass sich einzelne Personen auch dank ideologischer Erzählungen in einem Kollektiv wähnen". Das meint auch Jan Buschbom, der Gründer des "Violence Prevention Network", wenn er Ideologie als, "das Ensemble aus all dem" bezeichnet, "womit Individuen und Gruppen den 'Gummizaun‘ um sich herum schließen". Die "ideologisierten Wahrheiten liefern die Antriebe und Anlässe ideologisierter Gewalt", schreibt Buschbohm in einer Analyse für die politikwissenschaftlichen Fachzeitschrift "Totalitarismus und Demokratie".
Fazit
Die radikale Ideologie mancher "Querdenker" trägt nach Ansicht von Rechtsextremismus-Experten und Kommunikationswissenschaftlern dazu bei, die unabänderliche Konfrontation zwischen dem - so die Darstellung der Anhänger - "guten Volk" und den "bösen Eliten" zu verhärten und der gewaltsamen Lösung dieser Konfrontation den Weg zu bereiten. Die vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten im Internet verbreitern, fokussieren und verstärken diese Entwicklung zusätzlich. Einschlägige Medien wie der "Demokratische Widerstand" tragen zur Radikalisierung der Anhänger bei.
"Krieg", "Bürgerkrieg", "Kampf", "Aufstand": Die Rhetorik des radikalisierten Rechtsextremismus ist drastisch. Eine individuelle Sozialisation spielt laut Experten bei der Herausbildung von Gewaltbereitschaft ebenfalls eine Rolle. Aber auch die Ideologie mancher "Querdenker" bereitet der Gewalt den Boden: Sie stellen ein ausgeprägtes Freund-Feind-Schema, Rechtfertigungsideologien und eine den Gegner direkt attackierende Propaganda bereit. Das alles ist laut Experten das "Rezept", das den Schritt zur Gewalt erleichtert. Diese Gewalt hat keinen anderen Grund, als einen "ideologischen Gegner" zu schädigen.
Aus Sicht der radikalisierten Querdenker sind Polizisten oder Medienvertreter "Systemerhalter" - und deshalb ohne weiteres angreifbar, auch mit Gewalt.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!
Europäische Perspektiven
BR24 wählt regelmäßig Inhalte von unseren europäischen öffentlich-rechtlichen Medienpartnern aus und präsentiert diese hier im Rahmen eines Pilotprojekts der Europäischen Rundfunkunion.
- Zum Artikel: "EBU-Projekt Europäische Perspektiven"