Laut der "Stiftung Deutsche Depressionshilfe" erkranken jedes Jahr 5,3 Millionen erwachsene Menschen in Deutschland an einer behandlungsbedürftigen Depression. Dazu kommen Kinder und Jugendliche – und diejenigen, denen man die Krankheit nicht anmerkt.
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So hat es die 26-jährige Lea erlebt, als sie gegen Ende ihres Studiums bereits Vollzeit am Theater arbeitet – in ihrem Traumjob - und das mit viel Herzblut. Trotzdem ist sie oft erschöpft, fühlt sich traurig oder einsam, nimmt immer weiter ab, leidet unter Konzentrationsproblemen. Sie erklärt sich das mit ihrem hohen Arbeitspensum. Lea funktioniert, allerdings um einen hohen Preis.
Vor zwei Jahren wird eine Depression bei ihr festgestellt. Lea kann die Diagnose nicht fassen: "Depressionen – das hat man doch nicht", so habe sie reagiert. "Das habe vor allem ich nicht, weil ich ja alles mache." Lea schrieb an der Uni weiterhin gute Noten, traf Freunde, versuchte "alles auf die Kette zu kriegen". Dabei sei selbst Aufstehen und Zähneputzen "unglaublich anstrengend" gewesen, erinnert sie sich im Gespräch mit dem BR.
Oberflächlich leistungsfähig, aber innerlich leer
Gerade Menschen, die sich stark über ihre berufliche Leistung definieren, haben oft ein ausgeprägtes Bedürfnis, weiter zu funktionieren, beobachtet die psychologische Psychotherapeutin Maren Wiechers vom BR-Podcast "Die Lösung". Eine Depression passe nicht in das Selbstbild der Betroffenen. Auch das soziale Umfeld erkennt das versteckte Leid dieser Menschen meist nicht. "Sie sind oberflächlich leistungsfähig, aber innerlich leer", sagt Wiechers. Manche Therapeuten bezeichnen das als "hochfunktionale Depression". Eine offizielle Diagnose ist das nicht, ein häufiges Phänomen in der psychotherapeutischen Praxis aber durchaus.
Typische Anzeichen einer Depression treffen in Fällen wie Leas nicht zu - etwa anhaltende Niedergeschlagenheit über mindestens zwei Wochen hinweg, ein dauerhafter Verlust von Lebensfreude oder eine anhaltende Erschöpfung. Wenn mindestens zwei dieser drei Hauptsymptome zusammenkommen, weist dies auf eine Depression hin, wobei je nach Schweregrad nicht immer alle Symptome auftreten. Dazu kommen in der Regel mindestens zwei weitere Symptome, wie Schlafstörungen, Suizidgedanken oder ein veränderter Appetit.
Das Erscheinungsbild der hochfunktionalen Depression ist weniger eindeutig. "Wenn wir diese sehr leistungsfähigen und zugleich sehr depressiven Menschen in der psychotherapeutischen Praxis sehen, diagnostizieren wir entweder eine normale Depression, weil es eben das Hochfunktionale offiziell nicht gibt", erklärt Wiechers. Oder die Diagnose laute "sonstige depressive Episode" oder "Dysthymie". Menschen mit einer Dysthymie leiden nicht episodisch unter depressiven Verstimmungen, sondern chronisch, für mindestens zwei Jahre am Stück.
Krankheit bleibt oft jahrelang unerkannt
Eine hochfunktionale Depression, die besonders häufig Frauen betrifft, könne mitunter jahrelang unerkannt bleiben, erklärt die AOK auf ihrer Website. Unbehandelt verursacht sie aber bei Betroffenen einen immer größeren Leidensdruck. Kommen dann äußere Faktoren, wie etwa eine Lebenskrise hinzu, könnten sich die Symptome massiv verstärken, so die Krankenkasse. International sprechen Psychologen auch vom Phänomen der "smiling depression".
Die Psychiaterin Michelle Hildebrandt, Autorin des Buchs "Hochfunktionale Depression. Das übersehene Leiden" schreibt, Betroffene seien "von ihrer Persönlichkeitsstruktur her häufig aktiv, leistungsorientiert, gut organisiert, Problemlöser". Deswegen bleibe ihr Leiden lange unerkannt. "Betroffene gehen von Arzt zu Arzt wegen körperlicher Beschwerden, aber da sie nicht 'depressiv aussehen' und sich auch nicht so verhalten, erkennt niemand das zugrunde liegende Problem." Das Wichtigste sei es, die Depression "zu erkennen und anzuerkennen".
Laut der Psychiaterin hätten viele Betroffene sogenannte "dysfunktionale Grundannahmen", wie etwa "Ich bin nur etwas wert, wenn ich etwas leiste", verinnerlicht. Auch Lea hat solche Glaubenssätze bei sich entdeckt: "Immer das Gefühl zu haben, ich muss performen, ich muss die Version von Lea sein, die andere von mir erwarten." Inzwischen macht sie eine Verhaltenstherapie und versucht mit kleinen Änderungen im Alltag aus ihren Denk- und Handlungsmustern auszubrechen.
Ihnen geht es nicht gut?
Erste Anlaufstelle für Betroffene kann der Hausarzt sein. Auch der ärztliche Bereitschaftsdienst kann unter der Telefonnummer 116117 eine psychotherapeutische Sprechstunde vermitteln. Außerdem können Sie die Ambulanzen der psychiatrischen Kliniken oder die Krisendienste beraten:
Krisendienste in Bayern sind erreichbar unter: www.krisendienste.bayern oder unter der Telefonnummer: 0800 / 655 3000
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