Darum geht's:
- User in sozialen Netzwerken befürchten, dass Östrogene oder hormonell wirksame Chemikalien in Kläranlagen nicht ausreichend herausgefiltert werden und so über Flüsse und Seen ins Leitungswasser gelangen können.
- Richtig ist, dass die meisten Kläranlagen diese Substanzen bisher nicht komplett herausfiltern. Aber: Etwa zwei Drittel des Trinkwassers in Deutschland kommen ohnehin aus dem Grundwasser, in Bayern sogar noch mehr. Dabei spielt Abwasser keine Rolle.
- Schon im geklärten Abwasser sind nur geringe Konzentrationen hormonell wirksamer Stoffe zu finden - in Flüssen und Seen werden sie dann noch weiter verdünnt und vor der Nutzung fürs Trinkwasser noch einmal aufbereitet.
- Zu Problemen kann es kommen, wenn alte Wasserleitungen mit Epoxidharz saniert wurden. Aus diesen kann sich bei hohen Temperaturen Bisphenol A lösen - ein Stoff, der im Verdacht steht, unfruchtbar zu machen.
Mitte Februar verbreitet sich auf dem Kurznachrichtendienst X ein Bild, auf dem eine blonde Frau Wasser aus der Leitung zapft. Daneben steht in großen Buchstaben: "Leitungswasser niemals trinken! Nur zum Gießen brauchbar." Der Tweet wurde bisher (Stand 21.03.2024) mehr als 70.000 Mal angezeigt. Darunter äußern User Spekulationen dazu, was im Leitungswasser enthalten sei. Etwa diese:
"Die Qualität ist miserabel. Allein, dass Östrogene im Wasser sind, weshalb Männer immer verweichlichter werden, sollte dir zu denken geben."
Auch auf TikTok taucht das Thema immer wieder auf: In einem Video heißt es:
"Trinkwasser macht Männer unfruchtbar und senkt den Testosteronspiegel. In den vergangenen 40 Jahren ist die Fruchtbarkeit der Männer um ca. 70 Prozent in Deutschland gesunken. (...) Das ist unter anderem auf die Östrogen-Belastung im Leitungs- und Mineralwasser zurückzuführen."
Studien: Anzahl der Spermien stark gesunken
Richtig ist, dass die Anzahl gemessener Spermien in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen hat. Im Untersuchungszeitraum von 1973 bis 2018 sank die Zahl der Spermien in einer durchschnittlichen Ejakulation um 62 Prozent. Zu diesem Ergebnis kam eine große Überblicksstudie, die Forscher aus Israel 2022 veröffentlicht haben - mit Daten von mehr als 57.000 Männern aus 223 Studien in 53 Ländern.
Die Ergebnisse klingen dramatisch. Wissenschaftler diskutieren allerdings noch darüber, ob es die ausgerufene Spermienkrise wirklich so gibt - oder ob die Ergebnisse auch darauf zurückzuführen sein könnten, dass die Messmethoden über die Jahre immer besser geworden sind (externer Link, möglicherweise Bezahl-Inhalt).
Trinkwasser nicht für Spermienkrise verantwortlich
Doch selbst wenn es die männliche Fruchtbarkeitskrise gibt: Dass Östrogene im Leitungswasser dafür verantwortlich sind, halten mehrere Experten, die der #Faktenfuchs dazu befragt hat, für nahezu ausgeschlossen. Auch das Umweltbundesamt (UBA), das die Trinkwasserqualität in Deutschland erforscht, teilt diese Einschätzung.
Richtig ist, dass Östrogene und hormonell wirksame Stoffe sich im Abwasser nachweisen lassen. Die meisten Kläranlagen können diese Stoffe bisher nicht komplett herausfiltern. Das geht nur, wenn die Kläranlage über eine sogenannte vierte Klärstufe - zum Beispiel mit Aktivkohlefilter - verfügt. In Bayern haben laut einer Sprecherin des Landesumweltamtes bisher erst zwei Anlagen diese vierte Klärstufe eingebaut.
Leitungswasser stammt überwiegend aus Grundwasser
Dass Hormone und hormonell aktive Stoffe in problematischen Mengen ins Trinkwasser gelangen, ist aber trotzdem unwahrscheinlich. Denn Leitungswasser stammt in Deutschland zu mehr als 60 Prozent aus Grundwasser - und das lagere so tief, dass eine Verunreinigung mit Östrogenen quasi ausgeschlossen sei, sagt Frank Sacher, Abteilungsleiter Wasserchemie am Technologiezentrum Wasser (TZW). Das TZW ist ein Forschungsinstitut des Branchenverbandes der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft DVGW.
Nur rund 14 Prozent des Leitungswassers in Deutschland stammt aus sogenannten Oberflächengewässern (zB Flüssen und Seen), in Bayern macht dieser Anteil sogar nur 7,5 Prozent des Rohwassers aus (externer Link). Und nur in diese Gewässer wird geklärtes Abwasser aus Kläranlagen eingeleitet.
Vor der Verwendung als Trinkwasser wird das Wasser noch einmal aufbereitet
Anlass zur Sorge besteht für den Menschen dennoch nicht. Denn Hormone und hormonaktive Stoffe sind wasserscheu und bleiben deshalb auch ohne vierte Klärstufe häufig im Klärschlamm hängen, wie Frank Sacher im Gespräch mit dem #Faktenfuchs erklärt. Schon im Abfluss der Kläranlagen fänden sich deshalb nur noch in seltenen Fällen Östrogene - und wenn, dann nur in geringen Mengen. Das bestätigt auch das Bayerische Landesamt für Umwelt (LfU) in einer Mail an den #Faktenfuchs. Dort wird seit vielen Jahren untersucht, ob gereinigte Abwasser von kommunalen Kläranlagen oder Oberflächengewässern mit östrogenwirksamen Stoffen belastet sind.
Östrogen-Konzentrationen im gereinigten Abwasser von Kläranlagen lägen in der Regel unter einem Nanogramm pro Liter oder seien gar nicht nachweisbar, schreibt das LfU per Mail. Östrogenwirksame Umweltchemikalien, die im Körper wie Hormone wirken können, kämen im Ablauf von Kläranlagen zum Teil aber in deutlich höheren Konzentrationen vor. Die Wirksamkeit dieser Stoffe sei jedoch auch um ein Vielfaches geringer als die der Östrogene. Würden die Abwasser in Gewässer eingeleitet, werde die Konzentration dort noch einmal so stark verdünnt, dass sich - etwa in Versuchen mit Fischen (externer Link) - keine oder nur noch sehr geringe östrogene Wirkungen beobachten ließen, teilt das LfU mit.
Und: Bevor es zu Trinkwasser wird, wird das Wasser noch einmal aufbereitet. Das bestätigen dem #Faktenfuchs sowohl Frank Sacher vom TZW als auch das Umweltbundesamt per Mail: "Hormone werden über biologische (mikrobielle) Transformation, Ozonung und UV-Behandlung mit anschließender Adsorption sehr gut aus dem Wasser entfernt."
Dass das funktioniert, zeigen auch die Messergebnisse. Viele große Versorger lassen ihre Proben beim TZW freiwillig auf Hormone untersuchen. Ohne dass es Anlass zur Besorgnis gäbe, sagt Sacher:
"Ich bin jetzt seit 30 Jahren im Geschäft und in den 30 Jahren haben wir wirklich noch keinen Befund an diesen Hormonen im Trinkwasser gehabt."
Die wichtigsten Fragen geklärt
Über welche Stoffe reden wir genau?
Wenn über Östrogene oder östrogenwirksame Stoffe im Wasser diskutiert wird, sind meist diese Substanzen gemeint:
Als Östrogene im eigentlichen Sinne kann man 17β-Östradiol und 17α-Ethinylöstradiol bezeichnen.
- 17β-Östradiol ist das natürliche Östrogen, das alle Frauen (und Männer, diese aber in wesentlich geringeren Mengen) im Körper produzieren und über den Urin wieder ausscheiden.
- 17α-Ethinylöstradiol bezeichnet ein künstlich hergestelltes Östrogen, das vor allem zur Empfängnisverhütung (“Anti-Baby-Pille”) verwendet wird.
Daneben gibt es bestimmte Chemikalien, die zwar keine Östrogene im eigentlichen Sinne sind, sich im Körper aber wie solche verhalten - zum Beispiel, indem sie an Östrogen-Rezeptoren binden.
- Bisphenol A (BPA): Der Stoff steckt zum Beispiel in harten, durchsichtigen Kunststoffen von Plastikflaschen oder auch in der Innenbeschichtung von Konservendosen. Verschiedene Tierstudien haben gezeigt, dass BPA ähnliche Auswirkungen wie das Hormon Östrogen haben kann. Daher wird BPA unter anderem mit einer verminderten Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht.
- Nonylphenol: Auch dieser östrogenwirksame Stoff kann nach einer Einschätzung der Europäischen Chemikalienagentur vermutlich die Fruchtbarkeit beeinträchtigen (externer Link). Der Einsatz in Wasch- und Reinigungsmitteln ist innerhalb der EU inzwischen verboten. Nonylphenol wird aber noch immer in Farben und Lacken oder als Ausgangschemikalie für die Herstellung von Polymeren und Klebstoffen verwendet. Laut dem Branchenverband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft DGVW kann es über Haus- und Industrieabwässer in öffentliche Gewässer und somit theoretisch auch ins Trinkwasser gelangen (externer Link).
Müssen Trinkwasserversorger ihr Wasser auf hormonell aktive Stoffe überprüfen?
Das hängt vom Stoff ab. Laut der deutschen Trinkwasserverordnung müssen die Wasserversorger in Deutschland ihr Trinkwasser bisher nur routinemäßig auf BPA untersuchen. Hier gilt seit dem 12. Januar 2024 ein Grenzwert von 2,5 Mikrogramm pro Liter.
Die Stoffe Nonylphenol und 17β-Östradiol müssen von den Wasserversorgern nicht direkt untersucht werden. Sie wurden aber in eine neu geschaffene Beobachtungsliste der EU aufgenommen, die mit der Novellierung der Trinkwasserverordnung seit Juni 2023 nun auch in Deutschland gilt (externer Link).
Seither gilt für Nonylphenol ein Leitwert von 300 Nanogramm pro Liter und für 17β-Östradiol von einem Nanogramm pro Liter. Der Unterschied erklärt sich dadurch, dass natürliche Hormone um ein vielfaches wirksamer sind als die Chemikalien. Für das synthetische Östrogen 17α-Ethinylöstradiol sieht die Verordnung keinen Leitwert vor.
Die Stoffe auf der EU-Beobachtungsliste müssen zwar nicht direkt untersucht werden; Unternehmen müssen aber überprüfen, ob die Gefahr besteht, dass diese Stoffe in ihrem Versorgungsgebiet ins Wasser gelangen können - zum Beispiel, weil eine Kläranlage solche Stoffe nicht ausreichend herausfiltert (“Risikomanagement”).
Kann das ausgeschlossen werden, muss der Stoff danach nicht routinemäßig überwacht werden, andernfalls schon. Das teilt eine Pressesprecherin des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) dem #Faktenfuchs per Mail mit. Für die Durchführung des Risikomanagements haben die Wasserversorger noch bis mindestens Anfang 2029 Zeit. Dem LGL liegen keine Informationen dazu vor, welche Wasserversorger in Bayern bereits ein solches Risikomanagement durchgeführt haben.
Lassen sich die Stoffe im Trinkwasser nachweisen?
Dazu erklärt das Umweltbundesamt per E-Mail, umfassende Daten zur Östrogenbelastung lägen nicht vor. Auch zu hormonell wirksamen Stoffen im Trinkwasser gebe es noch keine Daten - die Verpflichtung, routinemäßig auf BPA zu kontrollieren, besteht erst seit Mitte Januar 2024.
Grund zur Sorge besteht aber auch aus Sicht des Umweltbundesamtes nicht. Auch hier erwähnt man die Verdünnung und Aufbereitung, die passiert, bevor das Wasser aus Kläranlagen wieder zu Trinkwasser wird. Es sei unwahrscheinlich, "dass sehr geringe Konzentrationen hormonell aktiver Stoffe im Trinkwasser eine bedeutsame Wirkung auf die Gesundheit von Männern (oder auch Frauen) haben."
Dies gelte vor allem vor dem Hintergrund, "dass zahlreiche Lebensmittel (externer Link) hormonell wirksame Stoffe enthalten, Menschen in der Embryonal- und Fetalentwicklung natürlicherweise hohen Konzentrationen von Hormonen ausgesetzt sind und zudem östrogenwirkende Hormone in bedeutsamen Konzentrationen sowohl von Frauen als auch von Männern produziert werden".
Doch auch wenn es keine Daten gibt, die die Situation in ganz Deutschland abbilden: Was es gibt, sind Ergebnisse aus einzelnen Versuchen und Messungen. Dazu gehören einerseits die freiwilligen Messungen der Versorger, die oben schon erwähnt wurden. Andererseits öffentliche Versuche wie etwa das Projekt "Monitoring von hormonellen Wirkungen im Trinkwasser in Deutschland" (externer Link), das noch bis Ende November dieses Jahres unter Leitung des Umweltbundesamtes läuft. Dafür wurden in 50 Haushalten in Deutschland Trinkwasserproben entnommen. Die ersten vorläufigen Ergebnisse konnten keine hormonellen Wirkungen im Trinkwasser feststellen. Das teilt das UBA dem #Faktenfuchs auf seine Anfrage hin schriftlich mit.
Die Befürchtungen, dass minimale Konzentrationen von Östrogenen im Trinkwasser direkte Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben könnten, seien also "im Wesentlichen unbegründet", schreibt das Umweltbundesamt. "Trotzdem sollte aus Gründen der Prävention eine Verbreitung hormonell aktiver Chemikalien in der Umwelt und im Trinkwasser vermieden werden ("Minimierungsgebot")."
Alte Wasserrohre in Gebäuden können zum Problem werden
Im Trinkwasser, das von den Wasserversorgern bereitgestellt wird, finden sich Hormone und hormonell aktive Substanzen also in aller Regel nicht oder nur in solch niedrigen Konzentrationen, dass sie unbedenklich sind. Probleme können aber dann entstehen, wenn das Wasser von den Ortsnetzen in die hauseigenen Rohre übergeht. Hier kann zum Beispiel BPA ins Wasser gelangen. Das konnte etwa das Chemische und Veterinäruntersuchungsamt Stuttgart (CVUA) im August 2023 zeigen. Es hat kritische Konzentrationen von BPA im Warmwasser von Wohngebäuden festgestellt (externer Link): der Grenzwert wurde teilweise um ein Vielfaches überschritten.
Ausgelöst wurden die Verunreinigungen vermutlich dadurch, dass alte Rohre mit Kunstharzen ("Epoxidharz") saniert wurden, die BPA enthalten. Die Sanierung ist günstiger als die Rohre zu ersetzen. Das Problem: Die Beschichtungen werden mit der Zeit spröde und das BPA löst sich heraus.
Die gute Nachricht: In allen Kaltwasserproben lagen die BPA-Konzentrationen unterhalb der Nachweisgrenze. Das BPA ist offenbar nur in warmem Wasser löslich. Das Bundesumweltamt empfiehlt schon länger, nur kaltes Leitungswasser zu trinken und für Speisen zu verwenden (externer Link).
Fazit
Alle Menschen scheiden Östrogene mit dem Urin aus. Hinzu kommen künstliche Östrogene wie der Wirkstoff der Anti-Baby-Pille und sogenannte hormonell wirksame Stoffe, die auf verschiedenen Wegen ins Abwasser gelangen können. Dass hormonell aktive Substanzen aus dem Abwasser ins Trinkwasser gelangen, ist trotzdem sehr unwahrscheinlich: Denn Trinkwasser stammt in Deutschland zu über 60 Prozent aus Grundwasser - das mit Abwasser normalerweise gar nicht in Kontakt kommt.
Zudem bestätigen mehrere Experten dem #Faktenfuchs, dass sich im Ablauf von Kläranlagen zwar manchmal noch geringe Mengen von Hormonen nachweisen ließen - doch schon in den Gewässern, in die diese eingeleitet werden, würden diese so stark verdünnt, dass man sie in der Regel nicht mehr nachweisen könne. Bevor das Wasser im Wasserhahn landet, wird es von den Wasserversorgern zudem noch einmal aufbereitet.
Probleme können aber entstehen, wenn das Trinkwasser aus dem Verteilnetz ins Haus abgegeben wird: Mancherorts wurden alte Wasserrohre mit Epoxidharzen saniert. Wenn diese Auskleidungen alt und porös werden, kann sich durch heißes Wasser der Stoff BPA herauslösen und ins Trinkwasser gelangen. Im kalten Wasser ließ sich BPA nicht nachweisen.
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