Eingang Robert Koch-Institut
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Ausschnitte aus den Protokollen des Corona-Krisenstabes des Robert Koch-Instituts sind gerade Anlass für heftige Diskussionen.

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RKI-Protokolle: Wie Sätze aus dem Zusammenhang gerissen werden

Die gerade veröffentlichten Protokolle des Corona-Krisenstabes des Robert Koch-Instituts sorgen für Aufregung wegen ihres angeblich brisanten Inhalts. Bei näherem Hinschauen geben die Dokumente dafür aber wenig Anlass. Ein #Faktenfuchs.

Über dieses Thema berichtet: BAYERN 3-Nachrichten am .

Seit der Veröffentlichung von Sitzungsprotokollen des Corona-Krisenstabs des Robert Koch-Instituts (RKI) gibt es Medienberichte und Diskussionen um den Inhalt und die Bedeutung der rund 2.500 Seiten. Die zum Teil durch die Behörde geschwärzten Dokumente hat das Blog "Multipolar" veröffentlicht, das sich nach eigenen Angaben bereits seit Jahren im Rechtsstreit mit dem RKI über die Freigabe von Pandemie-relevanten Dokumenten befindet.

Geschwärzt ist etwa ein Name im Protokoll zur Sitzung vom 17. März 2020. Damals entschied der Krisenstab, die Risikobewertung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland von "mäßig" auf "hoch" heraufzustufen. "Multipolar" behauptet, hinter der Person, deren Signal für diese Entscheidung notwendig gewesen sei, verberge sich ein "externer Akteur". Das RKI hat jedoch inzwischen in einer Stellungnahme mitgeteilt, es handele sich dabei um einen RKI-Mitarbeiter.

In den RKI-Protokollen sind nicht nur Namen, sondern komplette Abschnitte geschwärzt. Das RKI begründet auf mehr als tausend Seiten jede einzelne Schwärzung. "Multipolar" will nun die Veröffentlichung der Protokolle auch ohne Schwärzungen vor Gericht durchsetzen.

Was steckt hinter dem Blog "Multipolar"?

Das Blog "Multipolar" wurde laut eigenen Angaben Anfang 2020 als Gegenentwurf zu bestehenden Medien gegründet. "Multipolar" wird von einigen Beobachtern als verschwörungstheoretisches Blog eingeordnet, wie zum Beispiel in dieser Forschungsarbeit erläutert wird und auch der "Stern" recherchiert hat.

In den Artikel-Empfehlungen von "Multipolar" finden sich zum Beispiel Links zu "anti-spiegel.ru", einem Blog, das das Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) 2023 zu den in Deutschland reichweitenstarken Kanälen im verschwörungsideologischen Milieu zählte.

Im Jahr 2020, dem ersten Jahr der Pandemie, veröffentlichte Wolfgang Wodarg einen Artikel bei "Multipolar", der mit Falschinformation zu dem damals neuartigen Virus auffiel. Wodarg zählte zum Netzwerk der "Querdenken"-Bewegung.

Zahlreiche Artikel auf "Multipolar" aus jenem Jahr verzerren Fakten, knüpfen an Verschwörungstheorien an und nutzen Quellen, die ebenfalls im verschwörungstheoretischen Bereich angesiedelt sind, wie den Blog "Swiss Policy Research".

Einer der "Multipolar"-Herausgeber verbreitete die Verschwörungstheorie, dass die Pandemie angeblich geplant gewesen sei. Ein Gerücht, das häufig kursierte, wie "Correctiv" berichtete.

Er veröffentlichte zudem verschwörungstheoretische Bücher etwa zum Terroranschlag vom 11. September 2001, eines davon zusammen mit Jürgen Elsässer, dem Chefredakteur des rechtsextremen Magazins "Compact".

Nach Veröffentlichung der RKI-Dokumente verbreiteten sich zahlreiche Ausschnitte

Im Anschluss an die Veröffentlichung der RKI-Dokumente kursierten zahlreiche Ausschnitte aus den Protokollen in den Sozialen Netzwerken. Gerade die vielen Schwärzungen befeuern darüber hinaus Gerüchte und Verschwörungstheorien, wie die um den angeblichen externen Akteur.

Häufig war im Netz zu lesen, dass aus den Dokumenten hervorgehe, wie das RKI die Pandemie tatsächlich bewerte und darüber die deutsche Bevölkerung gemeinsam mit politischen Akteuren getäuscht habe. Der #Faktenfuchs hat sich einige der verbreitetsten Behauptungen genauer angeschaut.

Insbesondere ein aus dem Kontext gerissener Satz aus den Dokumenten verbreitet sich: "Konsequenzen des Lockdowns haben zum Teil schwerere Konsequenzen als COVID selbst." Diesen Satz verwenden einige als Beleg für die Erzählung, dass bestimmte Maßnahmen gegen die Pandemie in Deutschland mehr Schaden angerichtet hätten als das Virus selbst.

Zahlreiche reichweitenstarke Accounts auf X (ehemals Twitter), Telegram und Youtube verbreiteten den Satz ohne Einordnung in den nötigen Zusammenhang weiter. "Multipolar" selbst griff ihn in seinen Artikeln nicht auf.

Der Satz findet sich wörtlich im RKI-Protokoll der Krisenstabssitzung vom 16. Dezember 2020. Das Zitat erweckt ohne den ursprünglichen Bezug aber einen falschen Eindruck.

Fehlender Kontext: Lockdown-Aussage bezieht sich auf Afrika

Denn in dem Abschnitt des Protokolls geht es explizit um den "Verlauf der Pandemie in Afrika". Dort komme es – so schreibt das RKI in diesem Teil der Protokolle – aufgrund von Lockdowns zu "Lücken bei der Behandlung von Tuberkulose", außerdem könnten Routineimpfungen nicht durchgeführt werden. Dadurch sei eine "steigende Kindersterblichkeit zu erwarten". Daran schließt sich die Feststellung an, dass die Konsequenzen des Lockdowns zum Teil schlimmer sein könnten als die von Covid-19 selbst – in Bezug auf Afrika.

Auch wenn es hierzulande ebenfalls verschobene OPs, verschleppte Vorsorgeuntersuchungen oder Arztbesuche während der Pandemie gab: Die Gesundheitssituation und -versorgung in vielen afrikanischen Ländern ist mit der in Deutschland nicht vergleichbar, insbesondere was die Ausbreitung der schweren Lungenkrankheit Tuberkulose oder Impfquoten von Kindern gegen Masern oder Polio angeht.

Durch das Weglassen des Kontextes, nämlich dass es sich um den afrikanischen Kontinent und dortige Lockdown-bedingte Probleme mit der Gesundheitsversorgung handelt, führt dieser Satz in die Irre. Auch die "Bild" griff am Montag in ihrer Berichterstattung zu den RKI-Protokollen den Satz "Lockdowns haben zum Teil schwerere Konsequenzen als Covid selbst" auf und platzierte ihn als Zitat in der Überschrift zu einem kurzen Text auf Seite 1 der Printausgabe. Der Afrika-Kontext wird weder in Text noch Überschrift erwähnt.

Grippewelle und Corona-Pandemie: Debatte um Todeszahlen

Noch ein weiterer Satz aus den Protokollen sorgt für Gerüchte und Mutmaßungen. Er steht im Protokoll einer Sitzung des Krisenstabs am 19. März 2021: "COVID-19 sollte nicht mit Influenza verglichen werden, bei normaler Influenzawelle versterben mehr Leute, jedoch ist COVID-19 aus anderen Gründen bedenklich(er)."

Die "Bild" zitierte nur einen Teil dieses Satzes in dem bereits erwähnten Artikel, nämlich dass Corona nicht mit der Grippe verglichen werden solle. Und führt aus: "Wer das neue Virus mit der Grippe verglich, wurde geradezu als Corona-Leugner gegeißelt. Doch im internen Papier halten die Experten fest: Bei einer normalen Grippewelle 'versterben mehr Leute'." Auch der bekannte Corona-Skeptiker Stefan Homburg zitiert den Satz in einem Post auf X, der über 180.000 Menschen angezeigt wurde. Dazu schreibt er: "Das RKI wusste immer, dass Corona keine besondere Gefahr bedeutet."

In beiden Fällen fehlt wichtiger Kontext: Denn der Satz endet an dieser Stelle eben nicht. Im Protokoll heißt es weiter: "jedoch ist COVID-19 aus anderen Gründen bedenklich(er)". Diese Einschätzung – dass Covid-19 aus anderen Gründen bedenklicher ist als die Grippe – wurde damals von vielen Experten geteilt: Denn anders als bei der Grippe gab es in der Bevölkerung zu Beginn der Corona-Pandemie keine Grundimmunität. Zudem war zunächst keine Impfung verfügbar. Auch der #Faktenfuchs hat diese Faktoren schon im November 2020, also mehrere Monate vor dem entsprechenden Protokoll, erklärt.

Doch was ist mit dem Teil des Satzes: dass bei einer normalen Influenzawelle mehr Leute verstürben als an Covid-19? Das ist, so pauschal formuliert, falsch. Am 19. März 2021 waren seit Beginn der Corona-Pandemie, also seit etwa einem Jahr, bereits mehr als 74.000 Menschen gestorben. Das ist dem täglichen Lagebericht des RKI vom 19.03.2021 zu entnehmen.

Der Großteil davon starb in der zweiten Welle, die von Ende September 2020 bis Ende Februar 2021 andauerte.

Mitte März 2021 wusste man also schon, dass die Zahl der Corona-Toten die der Influenza-Toten in anderen Jahren bei weitem überstieg. Denn letztere schwankt je nach Saison zwischen wenigen Hundert und mehr als 20.000 Todesopfern. Das geht aus einem FAQ des RKI von Anfang März 2021 hervor. Selbst in der besonders schlimmen Grippewelle 2017/18 waren nicht annähernd 74.000 Menschen gestorben – sondern etwa 25.000.

Bezog sich der Satz auf die damalige Situation, wäre er zutreffend. Denn mit dem Ausklingen der zweiten Welle ab Ende 2020 sanken die Corona-Todesfälle wieder. Auch insgesamt betrachtet (nicht nur Corona) starben im März 2021 weniger Menschen in Deutschland als im Durchschnitt der Vorjahre, wie diese Grafik aus dem Herbst 2021 zeigt.

Bildrechte: BR, auf Grundlage einer Grafik des Statistischen Bundesamts
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Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland für das Jahr 2021

Wiederkehrende falsche Behauptung zum Nutzen von FFP2-Masken

Am 30. Oktober 2020 sprach der Krisenstab unter anderem über den Einsatz von FFP2-Masken – auch dieser Ausschnitt der Protokolle wurde in sozialen Netzwerken häufig geteilt. Im Protokoll heißt es unter anderem: "Es gibt keine Evidenz für die Nutzung von FFP2-Masken außerhalb des Arbeitsschutzes, dies könnte auch für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden", und "Ihr Nutzen sollte auf Arbeitsschutz von Personen, die mit infektiösen Patienten arbeiten, begrenzt bleiben."

Dazwischen steht aber ein Satz, den etwa "Bild" unterschlägt: "Bisherige Studien zur Wirksamkeit von FFP2-Masken sind daran gescheitert, dass Masken nicht oder nicht korrekt getragen wurden". Es lag also an den Trägern und nicht an den FFP2-Masken, dass Studien keine Evidenz, also keinen Beweis für deren Wirksamkeit gegen die Verbreitung von Atemwegserkrankungen im Alltag liefern konnten.

Ein fehlender Beweis ist aber kein Gegenbeweis, wie die Forscher-Weisheit sagt: "absence of evidence is not evidence of absence", also etwa: Wenn es für etwas Bestimmtes keinen Beweis gibt, ist das kein Beweis dafür, dass es dieses Bestimmte nicht gibt. Die Aufregung erinnert hier an diejenige um die vermeintlich spektakulären Ergebnisse einer Meta-Studie des Cochrane-Instituts 2023. Sie sollte angeblich belegen, Gesichtsmasken seien wirkungslos. In Wirklichkeit zeigte sie aber nur, dass es für sichere Schlussfolgerungen nicht genug Daten gibt.

Für den Arbeitsschutz waren die FFP2-Masken aber schon 2020 getestet worden und hatten ihre Wirksamkeit als Schutz vor dem Einatmen von Partikeln in der Größe von Viren belegt. Daher waren auch Experten von ihrem Nutzen überzeugt, als etwa in Bayern Anfang 2021 eine FFP2-Maskenpflicht eingeführt wurde, wie zum Beispiel der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. Er sagte damals, korrekt angelegt und verwendet würden solche Maske anders als die einfachen Einweg- und Baumwollmasken viel Eigenschutz bieten.

Ende Oktober 2020, als der Krisenstab tagte, war zudem noch der akute Mangel an FFP2-Masken in den ersten Wochen der Pandemie in deutlicher Erinnerung. FFP2-Masken waren damals teuer und knapp, insbesondere bei denjenigen, die in Medizin und Pflege arbeiteten und ein hohes Risiko hatten, sich anzustecken. Das RKI wollte laut Protokoll des Krisenstabs daher darauf hinweisen, "dass ein mögliches Knappwerden der Masken für die eigentlich intendierten Benutzer (medizinischer Bereich) absolut zu vermeiden ist". Daraus lässt sich nicht ableiten, das RKI habe 2020 generell an der Wirksamkeit von FFP2-Masken gezweifelt, die mittlerweile durch viele Studien belegt ist.

Fazit

Spektakuläre Neuigkeiten gehen bisher aus den Protokollen des RKI-Krisenstabes nicht hervor. Sie zeigen aber, mit welchen Argumenten dort über die Pandemie-Maßnahmen diskutiert und das Für und Wider abgewogen wurde. Das betont auch das RKI in seiner Stellungnahme: "Diese Diskussionen spiegeln den offenen wissenschaftlichen Diskurs wider, in dem verschiedene Perspektiven angesprochen und abgewogen werden. Einzelne Äußerungen im Rahmen solcher Diskussionen spiegeln jedoch nicht zwangsläufig die dann abgestimmte Position des RKI wider." Darüber weist das RKI darauf hin: "Die Protokolle geben die Diskussionen und Entscheidungen im Krisenstab zum jeweiligen Zeitpunkt und Kenntnisstand wieder."

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

Disclaimer, 27.03.2024, 10:22 Uhr: Wir haben den Abschnitt zum Vergleich der Grippewelle mit der Coronapandemie zum besseren Verständnis überarbeitet. Im ersten Absatz steht nun der komplette Satz aus dem RKI-Protokoll, wir haben den Satzteil "jedoch ist COVID-19 aus anderen Gründen bedenklich(er)", der im Text erst später kam, eingefügt. Außerdem haben wir im Absatz zur "Bild" konkretisiert, was die "Bild" genau von diesem Satz zitiert hat. Dort steht nun "einen Teil dieses Satzes" statt "den ersten Teil des Satzes", außerdem haben wir im Absatz vor der Grafik ebenfalls das Wort "erster" gestrichen.

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