Eine Spritze mit einem Wirkstoff in einer Hand
Bildrechte: BR Johanna Schlüter

Eine Spritze alle sechs Monate soll vor einer HIV-Infektion schützen. Bisher ist die Substanz noch nicht als Präventiv-Medikament zugelassen.

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Welt-Aids-Konferenz: Zwei Spritzen zum Schutz vor HIV-Infektion

Auf der Welt-Aids-Konferenz in München wurde ein wissenschaftliches Highlight vorgestellt: Das Medikament Lenacapavir soll zu 100 Prozent vor einer HIV-Infektion schützen. Dazu sollen zwei Spritzen pro Jahr reichen. Ein Durchbruch?

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Das Medikament Lenacapavir ist vielen HIV-positiven Menschen bereits ein Begriff: Bisher wurde es in der Therapie eingesetzt. Vor allem bekommen es Patienten, die schon lange HI-Viren in sich haben und mit Resistenzen gegen andere Medikamente kämpfen. Für diese Anwendung ist es in Europa, nicht aber in Deutschland, zugelassen.

Das kalifornische Pharmazieunternehmen Gilead hat die Substanz jetzt für einen anderen Zweck getestet: zum Schutz vor einer HIV-Infektion.

Studie: Zwei Spritzen pro Jahr schützen vor Neuinfektion

Die sogenannte Prä-Expositions-Prophylaxe (externer Link) – also die vorbeugende, präventive Einnahmemöglichkeit - wurde mit mehr als 5.300 Frauen und jugendlichen Mädchen zwischen 16 bis 25 Jahren an 25 Standorten in Südafrika und drei Standorten in Uganda getestet. Eine Gruppe bekam zweimal im Jahr – also alle sechs Monate – Lenacapavir gespritzt. Eine zweite Gruppe nahm pro Tag eine Tablette mit einem Wirkstoff, der ebenfalls vor einer Infektion schützt, eine dritte Gruppe schluckte einen anderen präventiven Wirkstoff in Tablettenform.

Unter den 2.134 Frauen in der Lanacapavir-Gruppe gab es keinen einzigen Fall einer HIV-Infektion. Der Arzt und Aids-Forscher Hendrik Streeck vom Universitätsklinikum Bonn: "Wir haben theoretisch eine neue Präventionsmöglichkeit mit einer Spritze alle halbe Jahre, die zu hundert Prozent vor der HIV-Infektion schützt." Bei den beiden Gruppen, die täglich eine Tablette als Prävention vor einer HIV-Infektion eingenommen hatten, gab es 16 beziehungsweise 39 HIV-Infizierte. "Das ist mehr als eine Impfung jemals hätte hoffen lassen", sagt Christoph Spinner vom Klinikum Rechts der Isar der Technischen Universität München, der dieses Jahr Co-Vorsitzender der Konferenz ist.

Medikament könnte besonders im globalen Süden Leben retten

Lenacapavir könnte besonders für hunderttausende Menschen im Globalen Süden, für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter und für junge Mädchen ein Lebensretter sein. Aber: Bis jetzt gibt es noch keine Zulassung für Lenacapavir als Präventivmedikament. Die Forschung ist auch noch nicht abgeschlossen. Gilead wartet noch auf die Ergebnisse der klinischen Studie der Phase III.

Im Moment läuft außerdem auch noch eine zweite Studie mit Männern, die Sex mit Männern haben, und männlichen Sexarbeitern, denen Lenacapavir zweimal jährlich als Prä-Expositions-Prophylaxe gespritzt wird.

Wieso gibt es keine Impfung gegen Aids?

Seit 40 Jahren wird in der Aids-Forschung nach einem Impfstoff gesucht. Bisher vergeblich. Denn das HI-Virus verändert rasch seine Eiweißstoffe auf der Oberfläche. Das bedeutet, dass ein Impfstoff keine Chance hat, anzugreifen. Christoph Spinner: "Es gelingt dem menschlichen Immunsystem kaum, stabile, sogenannte neutralisierende Antikörper auszubilden und einen wirksamen Schutz zu entwickeln." Umso bedeutender sei die Entdeckung, dass die Spritze hundertprozentig vor einer HIV-Infektion schütze. Damit könnte eine Trendwende in der Aids-Forschung eingeläutet sein.

Die Lenacapavir-Spritze: Auch ein Mittel gegen Diskriminierung

Die bisher bekannten Präventionsmöglichkeiten in Tablettenform funktionieren zwar schon sehr gut – wenn auch nicht zu hundert Prozent. Die Präventionspillen müssen allerdings jeden Tag geschluckt werden. Die nur zweimal pro Jahr verabreichte Spritze würde diese strikte tägliche Einnahme nicht erfordern. Das würde es vielen Menschen, die ein erhöhtes Infektionsrisiko haben und Präventionspillen nutzen, leichter machen. Hendrik Streeck: "Es wird ein Stigma reduziert. Denn Menschen, die immer eine Tablette, mit der sie sich vor einer HIV-Infektion schützen, bei sich oder auch zuhause haben, sind viel zu erkennbar für andere. Der Schutz durch die Spritze wäre eben nicht so erkennbar wie durch diese tägliche Tablette oder auch ein Kondom."

Könnte ein Nachahme-Produkt günstiger sein?

Auch über den Preis der Spritze ist noch nichts bekannt. Medikamente, die normalerweise präventiv gegen das HI-Virus eingesetzt werden, kosten circa 30 Euro pro Monat in Deutschland. Lenacapavir wird vermutlich teuer sein. Wie viel, das lässt sich im Moment nur schätzen. Hendrik Streeck: "Bei Lenacapavir wird etwa um 2.000 Euro bis 2.500 Euro pro Anwendung kosten. Das sind Dimensionen, die einfach nicht darstellbar sind, wenn man vielen Menschen dieses Medikament geben will." Denn mehr als 95 Prozent aller HIV-Infizierten leben in Entwicklungsländern (externer Link).

In Afrika, Osteuropa oder Zentralasien, wo die Menschen wenig Ressourcen haben, ist das HIV-Problem am größten. Besonders Menschen dort sollten sich aber die Kosten für die Präventionsspritze leisten können. "Die größere Herausforderung wird natürlich dann bleiben, dieses Medikament auch dort verfügbar zu machen, wo es am dringendsten benötigt wird", sagt Christoph Spinner.

Der Pharmakologe Andrew Hill von der Universität Liverpool und seine Kollegen haben bereits berechnet, wie sich durch eine Generika-Version die Kosten senken lassen könnten. Auf Grundlage von Rohstoffpreisen und Gesprächen mit großen Generika-Herstellern in China und Indien kommen sie auf den Preis von circa 36 Euro für ein Nachnahmeprodukt. Dabei gingen sie davon aus, dass das Mittel für zehn Millionen Patienten bestellt wird. Ihre Berechnungen sind allerdings Teil einer sogenannten Preprint-Studie. Sie wurden also noch nicht im sogenannten Peer-Review-Verfahren durch Fachexperten unabhängig voneinander überprüft.

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