Rund um den Weiterbetrieb der verbliebenen drei deutschen Atomkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland stellen sich zahlreiche User Fragen zur Sicherheit von AKWs. Wir beantworten die wichtigsten.
- Zum Artikel: Risikofaktor Atomreaktor: Welche Gefahren drohen im Krieg?
Welche Störfälle und Unfälle treten bei Kernkraftwerken auf?
Die kurze Antwort: Die Bandbreite reicht von Ereignissen, die keine direkte Auswirkung auf die Sicherheit haben, bis zu den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima. Für die Einordnung gibt es eine mehrstufige Skala.
Die lange Antwort: Seit 1990 gibt es eine internationale Bewertungsskala für nukleare Störfälle und Unfälle: Ines (International Nuclear and Radiological Event Scale). Diese Skala hat heute insgesamt acht Stufen.
Unter die Ines-Stufe 0 fallen Ereignisse, die als sicherheitstechnisch nicht bedeutend angesehen werden. Hier findet man z.B. so etwas wie die Schnellabschaltung eines Kernkraftwerk-Blocks nach einem Bedienfehler.
Die Ines-Stufen 1 bis 3 umfassen Störungen (Anomalien) bis ernste Störfälle. Zur Kategorie 3 gehören unter anderem Beinahe-Unfälle, bei denen die gestaffelten Sicherheitsvorkehrungen eines Kernkraftwerks weitgehend ausgefallen sind. Im Jahr 2002 war das etwa beim US-amerikanischen Kernkraftwerk Davis-Besse der Fall. Dort hatte man bei Wartungsarbeiten festgestellt, dass der Deckel des Reaktordruckbehälters an einer Stelle bereits so stark korrodiert war, dass innerhalb weniger Monate ein großes Leck hätte entstehen können - mit fatalen Folgen.
In Deutschland gab es bislang höchstens Ereignisse der Kategorien 1 (33 Fälle) und 2 (3 Fälle). Aufgeführt sind sie unter anderem in den Jahresberichten des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung.
Die Ines-Stufen 4 bis 7 reichen vom Unfall, bei dem vergleichsweise geringe Mengen an radioaktiven Substanzen in die Umwelt freigesetzt werden, bis zu katastrophalen Vorfällen wie in Tschernobyl und Fukushima, wo es jeweils zum sogenannten Super-GAU gekommen ist. Diese beiden Ereignisse fallen bislang als einzige offiziell in die Kategorie 7.
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Wie wahrscheinlich sind schwere Unfälle und Nuklearkatastrophen?
Die kurze Antwort: Von den Sicherheitsanalysen her sollten sie sehr selten vorkommen. Doch auch eher unwahrscheinliche Ereignisse können in vergleichsweise kurzen Abständen auftreten.
Die lange Antwort: Kernkraftwerke müssen so ausgelegt werden, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Reaktorkern bei einem Unfall zerstört wird, extrem niedrig ist. Dafür werden unter anderem alle sicherheitsrelevanten Teile mehrfach eingebaut bzw. durch Notsysteme abgesichert, beispielsweise die Kühlung des Kerns.
Hinsichtlich des Unfallrisikos macht die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA Vorgaben. "Es gibt sogenannte probabilistische Sicherheitsanalysen, wo man versucht abzuschätzen, wie wahrscheinlich ist eine Kerngefährdung", erläutert Uwe Stoll im Gespräch mit dem BR. Stoll ist technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GRS. Bei solchen Sicherheitsanalysen geht es letztlich um die Frage, im Laufe von wie vielen Jahren es bei einem einzelnen Kernkraftwerks-Block theoretisch zu einem Kernschaden kommen darf. "Und da verlangt die IAEA heute im Bereich zehn hoch minus fünf bis zehn hoch minus sechs. Also ich bewege mich im Bereich: ein Mal in 100.000 Jahren bis ein Mal in einer Million Jahren."
Für ältere Anlagen kann so eine Sicherheitsanalyse aber auch durchaus eine Wahrscheinlichkeit ergeben, die eine Größenordnung darüber liegt. Bei rund 440 laufenden kommerziellen Kernreaktoren weltweit kommt man dann allerdings auf Zeiträume von nur noch einigen Jahrzehnten, die zwischen schweren Unfällen mit möglicherweise katastrophalem Ausgang liegen könnten. Das entspricht grob dem zeitlichen Abstand der Unglücke von Tschernobyl und Fukushima.
Wie häufig sind Vorfälle mit sicherheitstechnischer Relevanz tatsächlich?
Die kurze Antwort: Zumindest Unfälle sind nicht häufiger als bislang bekannt.
Die lange Antwort: Um die Risiken der Kernenergie besser abschätzen zu können, hat ein Forschungsteam an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich eine umfangreiche Datenbank aufgebaut: die ETHZ Curated Nuclear Events Database. In ihr wurden Angaben zu nuklearen Zwischenfällen aus ganz unterschiedlichen Quellen zusammengeführt. Aus zehntausenden Ereignissen haben die Forscher solche ausgewählt, die für die Sicherheit des Reaktorkerns relevant waren. Insgesamt sind so mehr als 1250 Vorfälle aus über 60 Jahren zusammengekommen. Nur 0,8 Prozent davon fallen in die Ines-Kategorien "Unfall" (Stufe 4 bis 7).
Mithilfe der Datenbank lassen sich diese Ereignisse jetzt genauer analysieren:
- Wie schwer waren die Störungen?
- In welchem Betriebszustand sind die Zwischenfälle aufgetreten?
- In welchen Anlagenteilen haben sie ihren Ausgangspunkt gehabt?
- Haben Komponenten dabei versagt oder Menschen?
Zumindest bei der Zahl der Unfälle gab es keine großen Überraschungen, sagt Wolfgang Kröger dem BR. Der emeritierte Professor der ETH Zürich hat lange Zeit im Bereich nukleare Energie und Sicherheit geforscht und war am Aufbau der Datenbank beteiligt.
"Wir haben kein verdecktes Tschernobyl gefunden", formuliert er etwas zugespitzt. Ähnlich habe es bei den Fällen in den nächst schwächeren Kategorien ausgesehen: "Da gab es insgesamt auch nur sieben. Aber wir haben jetzt kein Ereignis gefunden, das den offiziellen INES-Zahlen widerspricht."
Und auch die Abschätzungen, die aktuelle Sicherheitsanalysen zur Frage liefern, wie wahrscheinlich schwere oder katastrophale Havarien sind, stimmten nach Krögers Erfahrung zumindest von der Größenordnung her mit den Zahlen überein, die man mithilfe der Datenbank ermittelt habe.
Wie hat sich die Zahl sicherheitsrelevanter Ereignisse entwickelt?
Die kurze Antwort: Die Zahl der Vorkommnisse pro Reaktorjahr nimmt langfristig ab. Die Kernreaktoren werden insgesamt offenbar sicherer. Es zeigt sich aber, dass auch das Alter der Reaktoren einen Einfluss hat.
Die lange Antwort: Wie häufig es in einem Kernkraftwerk zu Ereignissen kommt, die sicherheitsrelevant für den Reaktorkern sind, das habe sich im Laufe der Zeit verändert, sagt Kröger: "Die Tendenz ist über die Jahre hinweg klar: Sie nehmen ab." Das liege zum einen daran, dass es anfangs bei den Kernreaktoren noch Kinderkrankheiten gegeben habe. Eine wichtige Rolle hätten aber auch der Unfall im Kernkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg und die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima gespielt. Unter anderem seien laufende Reaktoren nachgerüstet und das Design neuer Anlagen verbessert worden.
Die statistische Auswertung der Vorkommnisse zeigt aber auch einen gegenläufigen Trend: Die Zahl meldepflichtiger Ereignisse nimmt andererseits mit dem Alter der Reaktoren zu. Deutlich wird das besonders, wenn sie länger als 25 Jahre in Betrieb sind.
Das ist auch für Mycle Schneider ein entscheidender Punkt. Er ist ein unabhängiger Analyst zur Energie- und Atompolitik. "Das Durchschnittsalter von Atomreaktoren in der Welt ist heute über 31 Jahre. Die Atomreaktoren in den USA sind jetzt über 41 Jahre im Schnitt. In Frankreich sind sie über 37 Jahre. Das Alter spielt natürlich eine Rolle, weil sich die Materialien dynamisch verändern", betont Schneider im BR-Interview. Durch den Beschuss mit Neutronen, die im Reaktor bei der Kettenreaktion entstehen, versprödeten z. B. Metalle.
Auch eine Studie im Auftrag des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland BUND kommt bei den drei verbliebenen deutschen Kernkraftwerken zum Schluss, dass etliche der meldepflichtigen Ereignisse seit 2016 möglicherweise auf ein Alterungsproblem zurückgehen.
Solche Vorfälle könnten in Zukunft noch häufiger auftreten, da manche Länder bereits Reaktor-Laufzeiten von bis zu 80 Jahren anpeilen.
Wie sollen neue Reaktoren sicherer werden?
Die kurze Antwort: Unter anderem dadurch, dass sich selbst eine Kernschmelze nur begrenzt auf die Umgebung des Kernkraftwerks auswirkt.
Die lange Antwort: Nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 haben Ingenieurinnen und Ingenieure damit begonnen, neue Baureihen von Kernreaktoren zu entwickeln. Diese sogenannte dritte Generation sollte sicherer sein als die damals laufenden Anlagen. Im besten Fall sollten damit selbst Kernschmelzunfälle beherrschbar sein, ohne, dass radioaktive Stoffe in die weitere Umgebung entweichen.
Inzwischen sind mehrere Reaktoren der Generation III und III+ im Bau oder sogar schon in Betrieb. Darunter der EPR, eine europäische Entwicklung, erklärt Walter Tromm, Experte für nukleare Sicherheit am Karlsruher Institut für Technologie: "Da hat man dann auch eine Kernfänger-Konstruktion eingebaut." Die soll dafür sorgen, dass sich bei einer Kernschmelze das extrem heiße Kernmaterial nicht einfach immer weiter nach unten durch Stahl und Beton fressen kann. Stattdessen soll es sich auf einer speziellen Oberfläche ausbreiten und abkühlen.
Dadurch und durch weitere Verbesserungen, erhöht sich das Sicherheitsniveau rechnerisch noch einmal deutlich. Auch im Vergleich zu den drei verbliebenen deutschen Reaktoren, die schon als sehr sicher gelten, betont Walter Tromm: "Da würde ich sagen, das ist dann noch einmal eine Sicherheitsstufe mehr."
Fazit: Unfälle weniger wahrscheinlich geworden, doch Katastrophen lassen sich nicht ausschließen
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zahl der Ereignisse, die die Sicherheit des Reaktorkerns betreffen, von der Tendenz her gesunken. Und bei neuen oder technisch nachgerüsteten Reaktoren deuten die Sicherheitsanalysen darauf hin, dass es heute unwahrscheinlicher ist als früher, dass es zu einem schweren Unfall kommt. Trotzdem lassen sich weitere Katastrophen wie in Tschernobyl und Fukushima nicht ausschließen.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.