Hamster, Meerschweinchen oder lieber eine Katze? Karolina, Leonie und Alessandro stehen im Gang ihrer Wohngruppe und reden darüber, welches Haustier sie am liebsten hätten. "Eine Schildkröte wird es", kürzt Maik Hollstein, Pädagoge und Leiter der Einrichtung, die Diskussion ab. "Denn so ein Panzer schadet bei uns gar nicht."
Die drei im Alter von 10 bis 13 Jahren lachen über den Witz – vielleicht gerade weil sie wissen, dass ein Funken Wahrheit drin ist. Denn die Kinder, die in der Wohngruppe St. Maria in Fürstenzell im Kreis Passau leben, haben häufig Probleme mit Gewalt und Aggression. Sie wissen nicht, wohin mit ihrem Frust oder ihrer Angst.
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Immer mehr psychisch kranke Kinder in Bayern
Damit sind sie keine Einzelfälle: Die 20 stationären Plätze im sozial- und heilpädagogischen Internat in Fürstenzell sind alle belegt. Weitere Kinder stehen auf der Warteliste.
Immer mehr Kinder und Jugendliche im Freistaat haben psychische Probleme und brauchen amtliche Hilfe. Das belegen Zahlen der Jugendämter. Ihre Etats gehen heuer kräftig in die Höhe - um 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zum Beispiel in den Landkreisen Passau, Mühldorf, Günzburg und Fürth. Das hat eine stichprobenartige Abfrage des Bayerischen Rundfunk ergeben.
Schulschließungen haben Probleme befeuert
Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Kinder und Jugendlichen in Fürstenzell erzählen von "Ärger mit den Eltern" und von "Problemen mit dem Ausrasten". "Ich habe es zuhause nicht mehr ausgehalten", sagt der 17-jährige Peter. Leonie nickt und sagt: "Ich will ein Leben ohne Eskalation."
Jugendämter verschiedener Landkreise im Freistaat berichten unabhängig voneinander: Die Maßnahmen der Corona-Pandemie und vor allem die Schulschließungen wirken bis heute nach. Kinder, die schon mal gemobbt wurden, schaffen es zum Beispiel nicht mehr zurück in die Schule. Anderen ging es zuhause schlecht, sie wurden von den Eltern vernachlässigt.
"Wir sind konfrontiert mit Versagensängsten und Traumatisierungen. Außerdem leben Eltern zunehmend in prekären Verhältnissen. Wir haben viele Kinder bei uns, die von zuhause weggelaufen sind, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben. Die waren zum Teil fünf Tage oder länger nicht auffindbar", sagt Maik Hollstein.
Gesellschaft schaut genauer hin
In der Einrichtung sind die Jugendlichen in der Regel bis zu zwei Jahre untergebracht. Sie sollen hier lernen, sich an Regeln zu halten, selbstständig zu werden und Konflikte ohne Gewalt zu lösen.
Für Jugendämter ist diese Form der Hilfe die teuerste. Ein Heimplatz kostet rund 60.000 Euro im Jahr, sagt Stefan Geiß, Leiter des Jugendamts im Kreis Passau. Deshalb machen die Kosten so einen Sprung nach oben. Aber auch kleinere Hilfeleistungen sind stärker gefragt als früher: Schulbegleiter zum Beispiel, die durch Homeschooling zurückgeworfene Kinder unterstützen.
Für Geiß ist der wachsende Etat ein Spiegel der Gesellschaft. Er sagt: "Ja, es gibt mehr Kinder, die Hilfe brauchen. Aber es wird jetzt auch besser hingeschaut als noch vor 30 oder 35 Jahren, weil das Thema Jugendhilfe in den Köpfen von vielen Leuten ist."
Zahl unbegleiteter, minderjähriger Geflüchteter steigt
Was in Grenzlandkreisen wie Passau und Rottal-Inn die Lage zusätzlich verschärft: Es kommen wieder mehr unbegleitete minderjährige Geflüchtete nach Bayern. Werden die Jugendlichen an der Grenze aufgegriffen, müssen sich die Jugendämter vor Ort um sie kümmern. Deshalb suchen die Jugendämter dringend nach Pflegefamilien.
Fachkräfte fehlen
Es bräuchte mehr Heimplätze, bilanzieren Jugendamtsleiter in Bayern. Doch die können nicht einfach so angeboten werden, weil das Personal für Rundumbetreuung fehlt. Der Träger der Fürstenzeller Einrichtung, das Seraphische Liebeswerk Altötting, schreibt rund um die Uhr Stellen in allen Bereichen aus. Doch es kommen nicht genug Bewerbungen.
Natürlich seien die Arbeitsumstände im Schichtdienst hart, sagt Hollstein. Er glaubt aber, dass es auch an der mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung liegt. "Oh Gott, du arbeitest mit erziehungsschwierigen Kindern? Sowas höre ich immer wieder. Ich bin Fan von der Jugendhilfe. Und davon, wenn man ein Brennen entwickelt, eine Fall-Akte liest und dann sagt: Vielleicht schaffe ich es ja, etwas für das Kind und für die Familie zu verändern."
"Kinder müssen Gehör finden"
Die Kinder und Jugendlichen der Wohngruppe in Fürstenzell sind dankbar um ihre Chance. "Mir geht es gut, seitdem ich hier bin", sagt zum Beispiel der 17-jährige Peter. "Ich nehme mir vor, dass ich das alles hinbekomme und selbstständig werde."
Hollstein macht keinen Hehl daraus, dass viele Kinder auch abbrechen und es nicht schaffen. Aber das dürfe kein Grund sein, um es nicht zu versuchen. "Diese Kinder müssen Gehör finden."
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